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Reicht es, nur schnell zu sein?
Langsamkeit und Schnelligkeit – zwei Seiten einer Medaille
»Zeit ist das, was uns fehlt, wenn sich zuviel ereignet«, so beschreibt Manfred Eigen unsere aktuelle Situation treffend. Wir erleben unterschiedliche Geschwindigkeiten in allen Lebensbereichen und sind verunsichert. Ist die immer schnellere Entwicklung in Wissenschaft, Technik oder auch in der Wirtschaft überhaupt noch steuerbar? Wird anstelle des bewussten Gestaltens das »Durchwursteln« zur dominierenden Handlungsstrategie, wenn planbare Prozesse unmöglich erscheinen?

        


 
as Thema Zeit reicht sehr viel weiter als die Frage nach den neuesten Tools zur Beschleunigung unserer EDV-Anlagen. Es geht um die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das einerseits für jeden durch sein subjektives Zeitempfinden spürbar ist, andererseits zu den zentralen Mechanismen der Regulation und Koordination unserer Gesellschaft und Wirtschaft zählt. Allerdings bestimmen seit jeher die Instrumente und Erfahrungen, die wir zur Messung von Zeit entwickelt haben, auch unsere jeweilige Wahrnehmung. Denn je genauer wir Zeit messen können, desto mehr haben wir das Gefühl, weniger von dieser zur Verfügung zu haben.

Umgekehrt bestimmt unser Umgang mit dem Phänomen Zeit auch die Art und Weise, in der wir Zeit gestalten und zu beherrschen versuchen. So können wir beobachten, dass viele, die bis vor kurzem noch dem Beschleunigungssog hilflos ausgeliefert schienen, dabei sind, sich neu zu besinnen. Das Schlagwort von den »Slobbies« machte bereits die Runde, das für »slower but better working people« steht. Bildet sich eine Managergeneration heraus, die gegen das Stereotyp der ewig gehetzten Führungskraft und gegen das mechanische Diktat der Uhr revoltiert?

Entdecken Manager oder Führungskräfte etwa die Langsamkeit als neue Vision für eine nachhaltigere Entwicklung in Unternehmen und Wirtschaft? Können wir uns vom allgemein herrschenden und alles beeinflussenden Zeitdruck überhaupt lösen? Gibt es eine andere Antwort auf die Herausforderungen des Globalisierungs- und Internetzeitalters, in dem alles immer sofort erledigt werden muss, als die Beschleunigung ohne Wenn und Aber?

Leben im Geschwindigkeitsrausch
Zeit ist nur deshalb da und für uns wahrnehmbar, weil sie vergeht. Würde sie nicht verrinnen, dann könnten wir sie nicht wahrnehmen. Zeit scheint sich immer nur dort zu manifestieren, wo ein Beobachter ihr Verstreichen bemerkt und davon betroffen ist. Während wir bei der objektiven Betrachtung der Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen, können wir die subjektiv erlebte Zeit mit Erinnerung, Betrachtung und Erwartung beschreiben. So messen wir die Zeit auch nicht als Sache, sondern nur ihr Verrinnen. Die Sanduhr ist dafür das anschauliche Symbol.

Die Veränderung und das Vergehen bilden also den Kern all unserer Erfahrungen und Befindlichkeiten. Wenn alles schneller geschieht, wenn wir immer größere Räume in immer kürzeren Zeiteinheiten überwinden, wenn Distanzen schrumpfen, wenn immer mehr Bilder, Informationen und Reize in immer kürzeren Intervallen auf uns einwirken, bedeutet dies vor allem: Unsere Reizökonomie gerät außer Rand und Band. Die Innovationsrate, sprich die Neuerungen, wie Töne, Bilder, Gerüche, Landschaften, Gebäude, Gegenstände, Menschen, Meinungen, Botschaften, ja Gefühle, welche in kleinster Zeiteinheit auf uns einwirken, wachsen ins Unermessliche an. Wir können sie geistig und emotional nicht mehr abarbeiten. Sie lassen uns daher meist kalt, wir gehen auf Distanz. Das heißt, wir lassen sie schon nach flüchtigster Berührung wieder fallen und eilen weiter zu neuen Ereignissen.

Eilen wir also nach dem Motto »Verschwinde doch Du Augenblick, Du dauerst schon viel zu lange und verstellst mir nur den Blick für Neues« von Ereignis zu Ereignis, von Erlebnis zu Erlebnis ständig im Bestreben, neue Effekte zu erhaschen, Highlights oder Sensationen zu sammeln, die aber alle ihre Wirkung sehr schnell wieder verlieren? Für die Rastlosigkeit und Dynamik unseres modernen Lebens hat uns schon Goethe in seiner Figur des Faust ein treffendes Beispiel gegeben: »Ihn sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück, so buhlt er fort nach wechselnden Gestalten.«

Wenn uns also die ganze Welt in kleinsten Blöcken von wenigen Sekunden in unser Wohnzimmer geschaltet wird, bleibt uns dann nicht zwangsläufig nur Hilflosigkeit oder besser Teilnahmslosigkeit? Wissen und erfahren wir dann überhaupt etwas von der wahren Wirklichkeit, gerade weil uns so viel Wirklichkeit im Nanosekundentempo auf unseren heimischen Tisch serviert wird? Die modernen Medien scheinen es oftmals zu sein, die Trends setzen und diese genauso schnell auch wieder verwerfen. Können wir uns dem überhaupt widersetzen? Können wir uns dieser Entwicklung entziehen?

Der Systemforscher Klaus-Peter Möller urteilt in dieser Situation: »Traue niemals einem gerade vorherrschenden Trend langfristige Stabilität zu. Jeder Trend baut die Voraussetzungen für sein Ende selbst mit auf. Je stabiler die Trendrichtung gerade erscheint, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass gegenläufige Entwicklungen sich verstärken, dem Trend zunächst die Spitze brechen und ihn dann umkehren«.

Zeit als letzte Ressource im Wettbewerb?
Auch auf der Suche nach Wettbewerbsvorteilen auf den globalen Märkten bildet die Zeit, wie es scheint, die letzte Ressource, mit der man einen Vorsprung vor der Konkurrenz sichern kann. »In den schnellen Wirtschaften«, so Alvin Toffler in seinem Buch Machtbeben, »beschleunigt moderne Technik die Produktion. Aber das ist bei weitem nicht das Wichtigste. Ihr Tempo wird von der Schnelligkeit der Transaktionen, der zur Entscheidungsfindung benötigten Zeit, der Geschwindigkeit, in der neue Ideen in den Labors entstehen, der bis zur Vermarktung benötigten Zeit, der Schnelligkeit von Kapitalströmen und vor allem von der Geschwindigkeit bestimmt, mit der Daten, Informationen und Wissen durch das Wirtschaftssystem pulsieren.«

Die Zeitschere für das Management nimmt in dieser Situation weiter zu, das heißt, die bei wachsender Komplexität benötigte und die bei zunehmender Dynamik erforderliche Reaktionszeit werden weiter auseinander driften. Aus dem permanenten und sich noch weiter verstärkenden Innovationsdruck resultiert deshalb ein Beschleunigungssog, der Geschwindigkeit zu dem Wettbewerbsvorteil überhaupt macht. Ja, Geschwindigkeit scheint der strategische Imperativ unseres gegenwärtigen und zukünftigen Handelns geworden zu sein.

Dieser überall herrschende Beschleunigungsdruck beschränkt sich nicht mehr nur auf die Gestaltung von Produktionsprozessen oder Arbeitsabläufen. Soziale Beziehungen am Arbeitsplatz, aber auch private und sonstige kommunikative Beziehungen können sich kaum noch der Zeitrationalität entziehen. In allen Bereichen unseres Lebens treffen wir auf das vermeintlich zwingende Gesetz der immerwährenden Beschleunigung. Das Handy oder zumindest dessen sehr häufige Nutzung, die oft nur darin besteht, recht Nutzloses weiterzugeben und so den Adressaten zu etwas zu bewegen, das er von sich aus nicht getan hätte, zeigt in die gleiche Richtung.

Hand in Hand geht damit einher die immer stärkere und radikalere Bewirtschaftung des an sich nicht zu vermehrenden Zeitkontos. Nur keine Stagnation, nur keine Passivität zulassen, »schneller leben« heißt die Konsequenz in der Informations-, Gigabyte- oder Nanosekunden-Kultur, die mit Zeiteinheiten rechnet, die unser Gehirn nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn reflektieren kann. Schon wird die 24-Stunden Gesellschaft in vielen Bereichen propagiert, die keine Pausen mehr kennt oder zulässt und ohne Unterlass ein vermeintliches Ereignis an das andere reiht, ständig nach neuer Aufmerksamkeit heischend.

Dem Gesetz der Evolutionstheorie zufolge werden in einer solchen Situation nur diejenigen überleben, deren Anpassungsgeschwindigkeit mindestens so groß ist wie die Änderungsgeschwindigkeit und Beschleunigung ihres Umfeldes, in dem sie agieren und existieren. Und die Erkenntnisse aus der Chaosforschung zeigen uns, dass der Zustand eines sich selbst entwickelnden Systems – Unternehmen und soziale Organisationen sind solche Systeme – in Richtung zunehmender Turbulenz tendiert. Schnelligkeit heißt deshalb die Spielregel. Und wir alle haben gelernt, unsere Zeit zu rationalisieren, was wir wie schnell und mit welchem Zeitaufwand erledigen können. Wie keine andere hat unsere Epoche die technische und soziale Organisation fast aller Lebensbereiche unter das Motto der immer und überall rationalisierten Ressource Zeit gestellt.

Sicherlich gibt es viele Menschen, die mit der Geschwindigkeit des modernen Lebens keine Probleme zu haben scheinen. Als Beispiel seien die Vielmediennutzer genannt oder der Trend zum ständigen Aktionismus. Hier geht es aber weniger darum, welche verschiedenen Ausprägungen das moderne Leben trotz des Zwangs zur Beschleunigung zulässt, sondern darum, wie verantwortungsvoll wir damit umgehen und unsere Zukunft gestalten. Und es geht auch nicht darum, wie viel wir in einer gewissen Zeitspanne und Zeiteinheit erleben, tun oder »konsumieren« können, sondern um die Frage, wie sinnvoll wir unsere Zeit für Dinge und eine Zukunftsgestaltung einsetzen, die eine nachhaltige Entwicklung zum Ziel hat.

Die Turbo-Gesellschaft braucht einen Gegenpol
Sind die Menschen wirklich unersättlich und wollen ständig mehr und anderes? Die grundlegende Annahme der Ökonomie scheint dies zu bestätigen. Die Volkswirtschaftslehre beruht auf der Annahme der Nichtsättigung. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit immer neuen Produkten, vielfältigeren Angeboten und immer kürzeren Produktlebenszyklen sprechen für das »Immer-mehr«.

Mit der durch die Schnelligkeit ausgelösten Reizüberflutung spüren wir aber auch, dass wir reizökonomisch über unsere Verhältnisse leben, dass wir längst nicht mehr Schritt halten mit den selbstinszenierten Welt- und Umweltveränderungen, die sich vor allem als Beschleunigungs- und Vervielfachungseffekte darstellen. Schnelligkeit als das alleinige Credo unserer Wirtschaft und Gesellschaft gerät dadurch zumindest ins Wanken.

So kämpfen wir auch mit der Diskrepanz einer ständig zunehmenden Informationsüberflutung und einer parallel dazu abnehmenden Kommunikationseffizienz. Wir werden jeden Tag ignoranter oder besser unwissender, ohne dass wir aktiv etwas dazu beitragen. Die Forschung und Entwicklung, die Experten produzieren nicht zuletzt mit Hilfe der modernen Informationstechnologien so viel neues Wissen, dass wir zum Beispiel die Encyclopaedia Britannica jeden Tag mehrfach neu schreiben könnten.

Gleichzeitig produzieren wir immer mehr Informationsmüll und die gesamtgesellschaftliche Informationsüberlastung beträgt heute bereits mehr als 98 Prozent. Die Empfänger beachten höchstens noch zwei Prozent des gestreuten und verfügbaren Informationsangebotes. Schnelllebigkeit und Quantität ersetzen hier meist Gründlichkeit und Qualität, Genauigkeit und Zusammenhänge. Oder, weil Information in einem solchen Überfluss vorhanden ist, lassen wir uns (oder bleibt uns) nicht die Zeit für ein genaueres Hinsehen. Eine ausweglose Situation also für uns und unser Zeitbudget, das durch diese Überflutung noch enger wird und dessen Ringen um Strategien, mit denen man die immer höhere Geschwindigkeit bewältigen will, als hoffnungslos erscheint?

Es gibt also durchaus Grenzen der Beschleunigung. Eine Rose z.B. muss selbst zur Blüte kommen, man kann die Knospe nicht aufbrechen. Oder wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn Du daran ziehst.« So können auch die Prozesse der Erfahrung genauso wenig beschleunigt werden wie viele kulturelle und gesellschaftliche Prozesse.

Das Leben bestraft denjenigen, der zu spät kommt,
gleichermaßen wie denjenigen, der zu früh kommt.
Dass sich z.B. Führungskräfte durch Zeitknappheit und Gehetztsein auszeichnen, muss nicht automatisch so sein, wie Sten Nadolnys Held John Franklin in seinem schon vor über 20 Jahren geschriebenen Roman Die Entdeckung der Langsamkeit überzeugend belegt. Je komplexer eine Aufgabe ist, desto fragwürdiger wird es nach Nadolny, unbedingt ihre rascheste Lösung anzustreben. Und es mag zunächst paradox klingen: Das strategische Wettrennen unserer überall schnelllebigen Zeit, in der alles sich in ständiger Bewegung befindet und alles eigentlich schon gestern oder vorgestern erledigt sein sollte, dieser Wettlauf wird, wie mittlerweile viele Signale andeuten, eher von den Gelassenen und Beharrlichen als von den hektisch Aktiven gewonnen werden. Dies hat nicht zuletzt die sogenannte New Economy in den letzten Jahren einprägsam bewiesen. Die Entwicklung hat viele der zu kurz greifenden und überhasteten Geschäftskonzepte sehr schnell wieder korrigiert oder aus dem Markt geworfen.

So beherrscht Nadolnys Held John Franklin eine vorbildliche navigatorische Routine, weil er Offenheit, Gelassenheit, Nachdenklichkeit und Langsamkeit ständig in seinem Verhaltensrepertoire mit sich führt. Im entscheidenden Augenblick, wo es um Leben und Tod für seine Mannschaft und sein ins Packeis geratenes Schiff geht, verliert er keine Zeit mit hektischen Flucht- oder Lösungsversuchen, für die es ohnehin zu spät gewesen wäre. Nein, er nimmt sich Zeit zum Nachdenken und konzentriert sich auf denkbar »undenkbare« Lösungen. So versucht er erst gar nicht, sein Schiff aus dem Packeis herauszubringen, sondern manövriert es direkt hinein, um nicht von treibenden Eisbergen zerrieben zu werden. Einen sichereren Platz, als zwischen Eiswänden eingekeilt zu sein, konnte es nicht geben, auch wenn dies von seiner Mannschaft zunächst nicht so gesehen wird. Genau dies aber bringt ihm und seiner Mannschaft die Rettung vor dem sicheren Schiffbruch und Untergang.

John Franklins Lehre lautet: Nicht die Dinge sind es, die uns erschrecken, sondern unsere Ansichten über die Dinge. Schon in der Antike war man sich bewusst, dass die Welt sich total verändert, wenn man sie aus der Perspektive der Langsamkeit betrachtet. Dafür steht die paradoxe Metapher vom Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte. In unserer hektischen Gesellschaft und Welt haben nur noch wenige die Geduld für ein solches Vorgehen oder eine solche Sichtweise, die für John Franklin typisch ist und seinen Erfolg ausmacht. Manager wollen und brauchen Ergebnisse »jetzt und sofort«. Der Mitautor des Bestsellers Auf der Suche nach Spitzenleistungen, Robert Waterman, charakterisierte dies sehr treffend: Manager »wollen umfassende Qualität hier und jetzt, Selbststeuerung ein Jahr später, und ganz en passant soll auch noch eben die Unternehmenskultur verändert werden. Die Unfähigkeit, sich der Zeit zu verschreiben, der es einmal bedarf, große Dinge zu tun, ist genau der Grund, warum die meisten ›Führer‹ keine großen Dinge zustande bringen«.

Navigatorische Meisterschaft und entdeckerische Kühnheit – nur wer die rationale Tüchtigkeit des Gottes Apoll mit dem transrationalen Umherschweifen seines Halbbruders Hermes verbinden kann, erst der hat, so Nadolny, auf angespannte Situationen mehr als nur eine Antwort zur Hand. Dieses Abwägen von verschiedenen Alternativen wird in Zukunft immer wichtiger, wenn wir unsere Unternehmen nachhaltig auf Erfolgskurs halten wollen. Das Denken in eindimensionalen Kategorien reicht nicht mehr aus. Und die neuere Gehirnforschung bestätigt uns, dass die Eigenschaften beider Götter in uns wohnen: Apoll in der rational-logischen, systematisch-ordnenden und methodisch-kategorisierenden linken Gehirnhälfte, Hermes in der Intuition, Kreativität, Irrationalität und Schöpferisches verkörpernden rechten Hälfte.

Bei der florentinischen Kaufmanns- und Herrscherfamilie der Medici finden wir immer wieder die Symbole der Schildkröte und des Segels in vielen Gemälden und Begebenheiten geschäftlicher und gesellschaftlicher Art. Beide zusammen stehen für Schnelligkeit und Langsamkeit zugleich. Die Schildkröte verkörpert wie kaum ein anderes Lebewesen Gelassenheit, Ruhe, aber auch Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen. Demgegenüber steht das Segel für Schnelligkeit, Zielgenauigkeit und Manövrierfähigkeit. Schon in der Renaissance haben die Vertreter der ganz Europa prägenden Familie der Medici, die Florenz zum Mittelpunkt des Humanismus, der Wissenschaft und Kunst machten, die Notwendigkeit des Miteinanders beider Eigenschaften erkannt. Manchmal muss man eben auch einmal schnell sein, um der Langsamkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Nicht die Zeit ist knapp, wir wollen zuviel gleichzeitig!
»Im Kern ist und bleibt das Zeitproblem ein Komplexitätsproblem«, so Trendforscher Matthias Horx. »Nicht die Zeit ist knapp, sondern wir wollen zu viele Dinge in ihr erledigen. Die neue Zeitkultur des 21. Jahrhunderts wird deshalb nicht vom romantischen ›Prinzip Langsamkeit‹ geprägt, sondern von einer Diversifizierung von Zeitrhythmen: Beschleunigte Zeiten, in denen wir hohe Kreativität (Flow) erleben, ohne auf die Uhr zu schauen, wechseln mit Perioden, in denen wir uns regenerieren und ›entschleunigen‹. Die Lust an der Geschwindigkeit, an höherer Intensität, existiert in uns allen – aber auch die Sehnsucht nach Verzögerung und Aus-Zeiten. Echtzeit und Schneckenzeit schließen sich in der Zukunftsgesellschaft nicht aus«.

Dem heutigen Veränderungs- und Geschwindigkeitszwang steht so auch die bewusste Gegenerfahrung von Langsamkeit, Ruhe und Gelassenheit gegenüber. Die fernöstliche Weisheit des Taoismus »Wenn Du es eilig hast, mache einen Umweg« realisiert sich hier in einer neuen westlichen Wahrnehmungs- und Anwendungsform. Bei dem damit verbundenen neuen – um nicht zu sagen ungewohnten – Umgang mit Zeit reicht das Denken in Quantitäten nicht mehr aus. Denn das quantitative Streben allein führt immer weniger zum Erfolg. Ein qualitatives Element muss hinzukommen. So entsteht auch ein anderes Bewusstsein des persönlichen Zeitbesitzes, das den üblichen und bisher dominierenden Rationalitätsbegriff grundsätzlich in Frage stellt. Rationalität wird und kann nicht länger als Gewissheit identifiziert werden. Auch Qualität, wenn sie umfassend sein soll, erfordert ein bestimmtes Tempolimit. Aber der Virus der Hektik und Ungeduld, von dem sich viele allzu schnell anstecken lassen, macht meistens die möglichen Qualitätsgewinne zunichte.

Die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Fachrichtungen und Disziplinen können uns zu einer fruchtbaren Symbiose für die Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben führen. So wissen wir beispielsweise aus der Biologie, dass die Redundanz eines der entscheidenden Prinzipien für die Funktionssicherheit eines Systems ist. Nur haben wir bis heute zu wenig über die Funktionssicherheit des Systems Unternehmen, des Systems soziale Organisation und des Systems Gesellschaft nachgedacht. Deshalb ist unser Wissen darüber auch nicht besonders ausgeprägt. Deshalb stehen wir vielleicht auch vor den so schwierig erscheinenden Problemen in der Politik, in den Sozialsystemen, in der Arbeitswelt oder im globalen Wettbewerb.

Offensichtlich haben wir Angst, uns von unserem deterministischen kausalen Weltbild zu trennen. Wir klammern uns an das Gewohnte, an das Funktionale, Strukturierte, Logische und Lineare. Wir vergessen dabei, dass dies nicht mehr mit der täglich erlebten Realität konform geht, besonders weil wir heute eine ständige Berührung und Konfrontation mit anderen Kulturen und Wertesystemen haben und damit immer schnelleren Veränderungen ausgesetzt sind. Meistens mangelt es uns an der notwendigen Flexibilität, um wirkungsvoll auf diese Veränderungen reagieren zu können. Es gibt eine Dialektik, wie Sten Nadolny feststellt, die zu durchschauen lohnend ist: »Was in Monaten vorbereitet wurde, zahlt sich in Minuten aus, und was in Sekunden falsch gemacht wird, beeinflusst ganze Jahre negativ. Daher ist es angebracht, sich sowohl auf Jahre, als auch auf Sekunden einzurichten ... Der Führungsstil, der sowohl das vertraute Dauernde als auch den Umgang mit plötzlichen Gefahren (und Chancen) integrieren kann, ist wache, vibrierende Langsamkeit.«

In dem uns beherrschenden Geschwindigkeitsrausch vergessen wir häufig, dass Schnelligkeit allein nicht immer erfolgsentscheidend ist, sondern oft einhergehen muss mit Langsamkeit und Gelassenheit. Nadolny hat auch dazu ein anschauliches Beispiel: »Die Arbeit auf dem Schiff beobachtete John sehr genau. Er ließ sich beibringen, wie man Knoten macht. Dabei stellte er einen entscheidenden Unterschied fest: Beim Üben schien es mehr darauf anzukommen, wie schnell man einen Knoten fertig hatte, bei der wirklichen Arbeit aber darauf, wie gut er hielt.«

»Die jeweilig angemessene Geschwindigkeit zu finden, die den Entwicklungsprozess vorantreibt, ihn und sein Resultat aber nicht gefährdet, ist die stetige Aufgabe aller, die unsere Gesellschaft prägen, ob in Wirtschaft oder Politik – eine schwierige Aufgabe, eine Kunst, die Kunst der richtigen Tempi«, so der Schweizer Bundesrat, Moritz Leuenberger, beim 30. St. Galler Management Symposium.

In einer hektischen und immer unüberschaubarer werdenden Welt kann es an der Notwendigkeit von ruhenden, Orientierung gebenden Polen keine Zweifel geben. Dabei ist nicht die Langsamkeit an sich interessant, sondern das damit verbundene enorme kreative Potential, das in Zukunft noch dringender gebraucht wird zur langfristigen Sicherung unser aller Überlebensfähigkeit.  

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