Home         Autoren         Newsletter         Kontakt         Impressum
Randschärfe und Kernprägnanz: Identitätssuche durch Abgrenzung?
Eignet sich das Ziehen von Grenzen bei der Identitätsfindung? Oftmals interessiert der Inhalt mehr als die Abgrenzung zu Benachbartem. Formulieren wir Identitäten daher positiv, ergeben sich Überlappungen – aber dies muss kein Problem sein. Das Ziehen und Absichern von Grenzen ist auch in Organisationen überaus verbreitet und kostet wertvolle Ressourcen. Berufs- und Tätigkeitsverständnisse sollten daher weniger durch abgrenzende Vergleiche zustande kommen als vielmehr die Zusammenstellung von Merkmalen sein.

        


 
ielfältig sind die Erklärungsansätze dafür, was unsere Identität ausmacht. Fest steht, dass Identitäten im Wechselspiel von Abgrenzung und Zugehörigkeit entstehen. Da sich insbesondere im beruflichen Umfeld viele Menschen bei der Identitätsbestimmung oft in unproduktiven Abgrenzungsdiskussionen zu verfangen drohen, empfiehlt sich die Einführung eines Meta-Modells für die Klärung von Identität.

Das Modell der Randschärfe und Kernprägnanz basiert auf einem linguistischen Konzept des Kulturwissenschaftlers George Steiner1. In dem Konzept werden randscharfe Definitionen von kernprägnanten unterschieden. Für eine wissenschaftliche Eindeutigkeit eignen sich randscharfe Definitionen, bei denen die Grenzziehung zwischen den Bedeutungsräumen der voneinander zu unterscheidenden Begriffe im Vordergrund steht.

Abbildung 1: topographische Darstellung randscharfer Definitionen (Beispiel)

Für den kulturellen Gebrauch eignen sich kernprägnante »Definitionen« besser, weil hier ein Verstehen der wesentlichen Bedeutungen wichtiger ist als die Abgrenzung zu Benachbartem. Die Überlappungen der Bedeutungsräume von Begriffen sind kulturelle Normalität und müssen nicht beseitigt werden.

Auf Identität übertragen heißt dies, dass Selbstverständnisse nicht abgrenzend und schon gar nicht ausschließend gewonnen werden, sondern sich um einige Wesensmerkmale dieser Identität herum gruppieren und positiv formuliert werden.

Dabei stört es nicht, dass andere Identitäten teilweise dieselben Wesensmerkmale für sich in Anspruch nehmen. Beobachtet man z.B. den Versuch, Psychotherapie randscharf von Beratung abzugrenzen, bemerkt man seltsam anmutende Ausschließlichkeitskriterien, wie z.B. »in der Beratung keine Übertragung« oder »Beratung hat mit gesunden Menschen zu tun«. Tatsächlich jedoch können Beratungsklienten mehr oder weniger psychisch gestört sein, oder es ereignen sich im Beratungsprozess Beziehungsphänomene, die als Übertragung beschrieben werden können.

Abbildung 2: topographische Darstellung sich überlappender kernprägnanter Definitionen (Beispiel) (A = Übertragung in Therapie; B = Arbeit mit Gesunden in Beratung)

Der Unterschied liegt nicht in der Sache selbst begründet, sondern im Umgang damit, herrührend von einem jeweils anderen Wesensverständnis von Therapie bzw. Beratung. Für die Therapie ist die Arbeit mit Gesunden peripher. Wenn dennoch mit Gesunden gearbeitet wird, müssen diese als krank erklärt werden. Dies erst recht dann, wenn Krankenkassen bezahlen sollen. Wenn Therapeuten und Berater sich nicht über Grenzfälle, sondern über Typisches ihrer Tätigkeit und ihres professionellen Wirkungsverständnisses unterhalten, entsteht leicht ein Verständnis der jeweiligen Identitäten. Überlappungen irritieren die eigene Identität und Zuständigkeit nicht, sondern zeigen Möglichkeiten des Zusammenwirkens und der Mitbeachtung von Anliegen des »Nachbarberufes«.

Die randscharfe Denktradition ist für übermäßige Orientierung auf Grenz- und Zuständigkeitssicherung auch in Organisationen mitverantwortlich. Von manchen Zuständigkeiten erfährt man erst dadurch, dass man vor die Grenzen verwiesen wird, wenn man sich um »verwaiste« Zuständigkeiten kümmert. Metaphorisch gesprochen werden zu viele Ressourcen darauf verwendet, »Claims abzustecken und zu sichern«, anstatt das Land zu kultivieren und den Raum produktiv zu füllen.

Eine andere Kulturgewohnheit erschwert es gelegentlich, Identität individuell und positiv zu vertreten. Man glaubt, sich an einer vollständigen, einheitlichen und widerspruchsfreien Identitätsbeschreibung messen zu müssen. Weil dieser »Einheitsanzug« selten richtig passt und jede Abweichung gerechtfertigt werden muss, kommt es zu Doppelbödigkeiten und Identitätsunsicherheiten. Abgrenzende und gelegentlich polarisierende Vergleiche mit anderen Identitäten können hier als Ablenkung willkommen sein. Man ist sich seiner Identität unsicher, sucht aber durch Stoßen gegen andere die eigene Position zu spüren.

Geht man von einheitlich zu definierenden Berufs- und Tätigkeitsverständnissen ab und versteht Identität als Mosaikidentität, die zwar im Wesentlichen einen erkenn- und zuordenbaren Charakter hat, aber in vielen Variationen auftreten kann, lassen sich kernprägnante Berufsidentitäten mit individuellen Varianten finden, ohne kolonialistisch Alleinstellungsmerkmale für sich zu beanspruchen.

Es gibt eben kaum etwas, das nur man selbst für sich in Anspruch nehmen kann. Hält man das für notwendig, um eine unverwechselbare Identität zu haben, muss man anderen die beanspruchte Qualität absprechen. Hier hilft die Alternativkonstruktion, welche die Eigenart eher durch die besondere Zusammenstellung von Merkmalen erkennen lässt als durch die Einmaligkeit der Komponenten. Die Zusammenstellung macht den Blumenstrauß einzigartig und nicht der Anspruch, Blumen zu enthalten, die in anderen Bouquets nicht zu finden sind. 

 

1 Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, 1981