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Oliver Stengel, Alexander van Looy, Stephan Wallaschkowski (Hrsg.):
Digitalzeitalter – Digitalgesellschaft. Das Ende des Industriezeitalters und der Beginn einer neuen Epoche

ISBN: 3658165081
Erscheinungsjahr: 2017
Springer VS

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Neue digitale Zeiten
        


 
it dem heute in Deutschland vielfach bemühten Begriff »Industrie 4.0« wird der Umstand umschrieben, dass mit dem Internet und dem Internet der Dinge eine neuerliche industrielle Revolution den drei vorangegangenen auf den Fuß folgt: Nach dem Einsatz von Wasser- und Dampfkraft, der Elektrifizierung sowie dem Einsatz von Computern und einfachen Robotern sind es heute also die Vernetzungstechnologien, die einen derartigen Wandel im Wirtschaften und Leben der Menschen herbeiführen, der es rechtfertigt, von einer »Revolution« zu sprechen. Das Problematische an diesem Begriff, so weisen Oliver Stengel, Alexander van Looy und Stephan Wallaschkowski in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Buch Digitalzeitalter – Digitalgesellschaft richtig darauf hin, ist, dass impliziert wird, es handle sich »lediglich um die Fortsetzung der Industrialisierung mit neuen Mitteln«. Dabei geht es um viel mehr: Die neuen Technologien führen den Bruch mit dem herbei, was das Industriezeitalter charakterisierte – und nichts geringeres als den Übergang zum nächsten Zeitalter zu beschreiben macht sich das Buch zur Aufgabe.

Im Anschluss an die Menschheitsphase als Jäger und Sammler, die Phase der Agrargesellschaften sowie jene der Industriegesellschaften sehen die Autoren eine neue Phase in der Menschheitsentwicklung eingeläutet – und zwar durch die »Digitale Revolution« als einzige der »Revolutionen, die diese Bezeichnung wahrhaftig verdient hat«, weil die Ausweitung des Internets zu weitaus schnelleren Veränderungen geführt habe, deren Wirkungen dazu noch weltweit spürbar seien. Digitalisierung wirft heute alles Bekannte und Vertraute über den Haufen und veranlasst die Autoren davon auszugehen, dass »sich eine Transformation noch größeren Ausmaßes« als bei vorangegangenen Epochenwechseln andeutet und sich »in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren [...] Menschen und menschliche Gesellschaften mehr verändern als in den letzten tausend Jahren«. Die die Industriegesellschaft stützenden Pfeiler wie Fabriken oder Erwerbsarbeit würden dann keine dominante Rolle mehr spielen.

Was nach einer recht vollmundigen Vorhersage klingt, unterstreichen die Autoren des Bandes dann mit eindrucksvollen Ausführungen, die den Leser mitnehmen in die verschiedenen Bereiche, in denen die digitale Revolution ihre Spuren hinterlassen wird. Dabei beschränken sich die einzelnen Kapitel nicht auf eine Beschreibung des Gegenwärtigen, sondern werfen auch einen Blick in die Zukunft, erkunden Trends und Entwicklungen und versuchen sich an Wahrscheinlichkeitsaussagen, was die Neuerungen und Umbrüche bringen werden. »Fantastische Fiktionen« sollen hierbei ausdrücklich ausgeklammert werden.

Zunächst geht es um die Kartierung des digitalen Raums. Der Mensch des Digitalzeitalters erlebt eine unvergleichliche Schrumpfung des Raums, zugleich aber erfährt er eine neue, virtuelle Raumdimension. Augmented Reality (AR), die erweiterte Realität, lässt den virtuellen mit dem realen Raum verschmelzen und eröffnet so einen neuen Lebensraum. Ausgehend von der Welt digitaler Spiele schaffen es AR-Brillen in vielversprechende Einsatzgebiete der Medizin, Designstudios, Ingenieurbüros und Servicetechnik. Da immer öfter auf AR-Brillen verzichtet werden kann, stattdessen Hologramme zur Anwendung kommen, wird der Unterschied zwischen Virtualität und Realität immer schwerer auszumachen sein. Aber noch größer werden die Auswirkungen für die Lebensgewohnheiten mit der Verbreitung von virtueller Realität (VR) sein: Damit entsteht eine gänzlich neue Umgebung, eine digital erschaffene Welt, in der wir immer mehr Zeit verbringen werden. Ein Anwendungsfeld virtueller Realität sieht Alexander van Looy vor allem im Bereich der Bildung: Im Geschichtsunterricht lässt sich dann der Lauf der Dinge miterleben oder aber Schüler können »auf den Gipfeln des Himalaya stehen, auf Dinosaurier-Safari gehen« und vieles mehr. Auch bei Bauprojekten könnte sich die Technologie als hilfreich erweisen und im Bereich des Tourismus werden wir völlig neue »Reiseerfahrungen« machen. Die angeführten Beispiele geben einen guten Eindruck davon, was sich alles ändern wird. Welche echten Transformationen freilich von erweiterter und virtueller Realität ausgehen, darauf will der Autor sich nicht festlegen. Leider belässt er es im Wesentlichen bei der Aussage, »dass die Veränderung des Raums Gesellschaften schon immer transformiert hat«.

Auch der Mensch selbst wird im Digitalzeitalter nicht mehr derselbe sein wie zuvor. Zum einen bringt die Robotik stets humanoidere Roboter hervor, zum anderen wird der Mensch immer androider. Eine neue Kategorie eines Wesens sieht Oliver Stengel aufziehen: ein durch Technik erschaffener Homo sapiens 2.0. Nach der Umgestaltung der Natur macht sich der Mensch nun an seinen eigenen Körper, der Mensch wird zum »Intelligenten Designer« und überspringt mit technischen Mitteln natürliche Grenzen: Die Lebenserwartung wird ansteigen und körperliche Möglichkeiten werden erweitert werden. Cyborgs werden wohl kaum länger nur im Reich der Science Fiction beheimatet sein. Denkt man an Brillen, Hörgeräte, Herzschrittmacher oder Prothesen, so ging der Mensch freilich immer schon Verbindungen mit Technik ein. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass dereinst lediglich ausgefallene oder unzureichend ausgeführte Funktionen ersetzt werden sollten, der Cyborg aber orientiert sich am Übermenschlichen.

Selbstredend darf auch die Künstliche Intelligenz nicht fehlen, wenn von einem technologisch bedingten Umbruch die Rede ist. Bernd Vowinkel trifft hierbei die Vorhersage, dass von der künstlichen Intelligenz, einem »kategorial neuen Phänomen«, zu erwarten ist, die organische Intelligenz in Zukunft zu übertreffen. Auf Entwicklung einer Superintelligenz steuere die Menschheit zu, denn anders als die menschliche Intelligenz sei die künstliche an keinerlei Grenzen gebunden. Aber, so beruhigt der Autor sogleich, dürfe man »vermuten, dass eine Superintelligenz vernünftig mit den Menschen umgeht«. Dass man auch bei Menschen eine Korrelation zwischen Intelligenz und vernünftigem, gewaltfreien Verhalten feststellen kann, soll dem Leser als Argument für diese Behauptung genügen.

Leider kommt an vielen Stellen die Kehrseite der überaus technikoptimistischen Sicht auf die Dinge etwas zu kurz. Wenn im Titel von der »Digitalgesellschaft« die Rede ist, dann wäre es durchaus interessant zu erfahren, wie man sich eine solche abseits neuer durch Technikeinsatz erreichter Bequemlichkeiten, Effizienz und Spielereien vorstellen darf. Wo bleibt der Mensch in diesen Technikszenarien? Geht es nicht um mehr als die »soziale Frage«, der ein Kapitel gewidmet ist? Wird nicht durch die übermächtigen Technologien das Menschsein an sich berührt? Welche ethischen Fragen werfen die Entwicklungen auf? Gerade im Kapitel über Künstliche Intelligenz sticht diese Lücke ins Auge, wenn angesichts der Verdrängung des Menschen aus einer Vielzahl von Tätigkeitsbereichen lapidar vom bedingungslosen Grundeinkommen als Lösungsansatz die Rede ist. Überhaupt kommt der Verdacht auf, dass der Wegfall von Arbeitsplätzen die einzige zu lösende Frage im Zuge der Digitalisierung sei. Dass eine ganze Reihe von ethischen Problemen aufgeworfen werde, gesteht Bernd Vowinkel zwar zu, befindet diese dann aber offenbar als zu unwichtig als dass sie »hier [...] im Einzelnen diskutiert werden können«. Und wenn als Antwort auf die »soziale Frage«, die der geschwächten Position der Arbeitnehmer entspringt, schlicht der Kapitalismus totgesagt und durch einen neuen Gesellschaftsentwurf ersetzt wird, in dem Menschen ohne Lohn »über das Internet miteinander vernetzt an der nichtkommerziellen Herstellung benötigter Güter« arbeiten und Eigentum bedeutungslos wird, dann wird hier zwar ein diskussionswürdiges Szenario entworfen, aber hält diese Zukunftsvision tatsächlich dem selbstgesetzten Ziel stand, »fantastische Fiktionen« beiseite zu lassen?

Insgesamt liefert das Buch einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Digitalisierung sowie einen reichhaltigen Fundus an Anwendungsbeispielen neuer Technologien. Ein Schuss Technikoptimismus weniger hätte dem Werk gut getan. Denn gerade der Begriff »Digitalgesellschaft« im Titel des Buches lässt erwarten, dass es zu einem großen Teil auch um die gesellschaftliche Ausformung des Wandels geht. Erst im Schlusskapitel wird die »Dialektik des Fortschritts« klar angesprochen und – Jürgen Habermas bemühend – darauf hingewiesen, dass die Probleme auf der neuen Entwicklungsstufe an Intensität zunehmen. An dieser Stelle tiefer zu bohren, wird den Technikfortschritt in Zukunft begleiten müssen.