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Zygmunt Bauman:
Retrotopia

ISBN: 3518073311
Erscheinungsjahr: 2017
Suhrkamp Verlag

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Sehnsucht nach Gestern
        


 
ode aus den Siebzigern, Möbel aus den Sixties, Schallplatten und Sofortbildkamera – Altes steht hoch im Kurs und Neues wird auf alt getrimmt. In der Produktwelt ist der Retro-Trend unübersehbar. »Früher war alles besser« beschreibt das Lebensgefühl in der heutigen Welt. Wie kommt es, dass wir nicht erwartungsfroh nach vorne, sondern sehnsuchtsvoll rückwärts blicken? In seinem posthum erschienenen Buch Retrotopia versucht sich Zygmunt Bauman an einer Antwort. Die These des 2017 verstorbenen polnisch-britischen Soziologen lautet, dass Menschen in der globalisierten Welt, in der die Nationalstaaten ihre Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit nicht mehr einlösen können, ein besseres Leben nicht mehr in der Zukunft suchen. In nostalgischer Verklärung wendet man sich stattdessen dem vermeintlich guten Alten der Vergangenheit zu.

Der Nationalstaat ist angesichts der rasanten Globalisierung unter Druck geraten: Dass sich die Macht globalisiert, während die Politik lokal verankert bleibt, führt zwangsläufig zum Krachen im Gebälk, weil diese Konstellation es dem Nationalstaat schwer mache, seinen Aufgaben nachzukommen. Dazu noch kommt eine um sich greifende Ökonomisierung, die zusätzlich Druck auf das Individuum ausübt, das eigene Leben mit den zumeist zu spärlichen Ressourcen zu handhaben. Individualisierung und Deregulierung tun ihr Übriges. Bauman sieht eine Wiederkehr der Hobbes’schen Welt, in der – homo homini lupus – der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Der moderne Mensch ist vereinzelt einem permanenten Konkurrenzkampf ausgesetzt.

Dabei macht Bauman einen Pyrrhussieg des modernen Individuums aus: Zwar hat es den Sieg negativer Freiheit im Sinne Isaiah Berlins errungen, doch gleicht dieser Sieg bestenfalls einer »positiven Ohnmacht«. Denn frei von Beeinträchtigungen mag der Mensch heute zwar sein, doch ist er auf sich selbst verwiesen, darf nicht auf Hilfestellung bauen und ist damit sozialen Kapitals beraubt, ohne das die gewonnene Selbstbestimmung jedoch stark an Wert einbüßt. Als »Gang vom Regen in die Traufe« bezeichnet folglich Bauman den Tausch individueller Freiheit gegen Sicherheit. Für immer weniger Menschen erscheint dies als Option.

In dieser Situation verspricht die Hinwendung zur Erinnerung einen gangbaren Ausweg, denn in den Augen zunehmend bindungsloser und aus gewohnten Bahnen geworfener Individuen steht das Gestern für Kontrollierbarkeit, Kontinuität und Ordnung. Da die Vergangenheit natürlich nur vermeintlich besser ist und ein Wiedergewinnen von Souveränität durch den Nationalstaat nicht zu erwarten ist, werden die Verwerfungen bestehen bleiben. Wie finden wir nun heraus aus dieser Zwickmühle? Obwohl Bauman sein Retrotopia als Kontrapunkt zu Thomas Morus' Utopia zeichnet, ist sein Lösungsvorschlag dennoch ein utopischer: Er schließt sich Papst Franziskus an und fordert mit ihm eine »Kultur des Dialogs«. Die Probleme könnten nicht allein von der Politik gelöst werden, die müssen überallhin getragen und von allen besprochen werden. Dass die Zeit drängt, daran lässt Bauman in seinem lesenswerten letzten Buch keinen Zweifel: »Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.« Dieses einzige Mal gibt es tatsächlich keine Alternative.