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Christoph Kucklick:
Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst

ISBN: 355008076X
Erscheinungsjahr: 2014
Ullstein

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Das Ende des Durchschnitts
        


 
enn Big Data aus lauter gleichen Bürgern einzigartige Datenobjekte macht, dann ist das für Christoph Kucklick die »granulare Gesellschaft«. Weil bis ins kleinste Detail heute alles vermessen werden kann, wird alles singulär. Jeder Mensch wird einzigartige Krankheiten haben, wird seine höchstpersönliche Therapie bekommen und möglicherweise auch seinen eigenen Krankenkassentarif. Barack Obama schnitt seine Kampagne zur Wiederwahl 2012 nicht auf einen fiktiven Durchschnittsbürger zu, sondern zielte auf reale Individuen, die zuvor durch Analyse verschiedener Daten als potenzielle Sympathisanten ermittelt wurden. Die Digitalisierung begräbt den Durchschnitt und stürzt die Gleichheit in eine Krise.

In seinem Buch Die granulare Gesellschaft beschreibt der Soziologe und Journalist eine »Gesellschaft neuen Typs«,: Diese entsteht als Folge der Digitalisierung, weil wir selbst und unsere Gesellschaft auf neue Weise vermessen werden. Alles – unsere Körper, unsere Beziehungen, Natur, Politik und Wirtschaft – wird hochauflösend dargestellt. Christoph Kucklick fasst die »granulare Gesellschaft« treffend in der Metapher der Billard- und Schrotkugeln zusammen: War die bisherige Gesellschaft »wie aus Billardkugeln zusammengesetzt«, so werden »diese Kugeln nach und nach durch winzige Schrotkugeln ersetzt«. Weil auf ein feinteiligeres Bild der Gesellschaft zugegriffen werden kann, entstehen für Erfassung, Analyse und Bewertung von Sachverhalten in den verschiedensten Bereichen neue Möglichkeiten. Aber mehr noch: Kucklick zeigt anhand vieler Beispiele von Unternehmen über Wahlkämpfe bis hin zu Robotern, wie die neue Granularität eine neue Welt erzeugt. »Denn mit der Detailgenauigkeit, mit der wir unsere Realität wahrnehmen, verändert sich diese Realität selbst.«

Kucklick beschreibt die Umrisse dieser neuen Welt anhand von drei Revolutionen. Zum einen sieht er eine Differenz-Revolution kommen, weil die neuen Möglichkeiten der Analyse und Interpretation Unterschiede hervortreten lassen, die bislang unsichtbar waren. Eine Intelligenz-Revolution werde Wissen und wirtschaftliche Chancen neu verteilen, weil der Vormarsch intelligenter Maschinen jenen einen Vorteil verschafft, die es verstehen mit diesen Maschinen umzugehen und zu kooperieren. Und eine Kontroll-Revolution sorge dafür, dass Menschen sozial neu sortiert, bewertet und verglichen werden. Die granulare Gesellschaft nimmt jede dieser Revolutionen in den Blick. Kucklick schildert anhand vieler Beispiele, wie sehr die »Granularität« unsere Demokratie fordert, wie groß die Gefahr ist, dass die Solidarität der Gemeinschaft zerbricht und Institutionen durch zu viel Detailwissen Schaden nehmen.

Christoph Kucklick gehört nicht zu denen, die alles verteufeln, was die neuen Entwicklungen bringen, aber ebenso liegt ihm fern, Digitalisierung blindlings zu feiern, lediglich die damit einhergehenden neuen Möglichkeiten zu sehen, ohne den Blick auf die Abgründe zu richten. Es ging ihm stattdessen darum, den Grundmechanismus, der all dem durch die Digitalisierung hervorgebrachten Neuen zugrundeliegt, zu beleuchten. Dabei ist der Ton des Buches niemals alarmistisch, was einen angenehmen Unterschied darstellt zu vielen anderen Veröffentlichungen auf dem Gebiet. Bei all den Chancen, die Digitalisierung bringt und die sofort ins Auge stechen, kommen die Gefahren für Freiheit und Gleichheit schleichend. Ein Nachdenken über bedeutende Fragen wird daher nicht ausbleiben können: Wie kann Datenschutz zeitgemäß ausgestaltet werden? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn Maschinen immer mehr können? Was bleibt dann noch für den Menschen?

Christoph Kucklick stellt bedeutende, hochaktuelle Fragen in seinem klugen Buch. Konkrete Antworten gibt er nicht. Auch dies ein wohltuender Unterschied zu vielen anderen Werken, die die Digitalisierung diskutieren. Angesichts eines derart fundamentalen Wandels wäre es vermessen, vorschnell mit Konzepten und Regulierungen aufzuwarten und vorzugeben, die neue Situation im Griff zu haben. Wir dürfen ruhig etwas ratlos und unwissend sein, hat das neue Zeitalter der Digitalisierung und der veränderten Wirklichkeit doch gerade erst begonnen und wurden wir mit rasendem Tempo hineinkatapultiert! Kucklicks Buch ist stattdessen ein Anstoß zum Nachdenken, ein Aufruf, sich bewusst Gedanken zu machen, welche Gesellschaft wir wollen unter den neuen Vorzeichen. Es brauche den homo granularis, so der Soziologe, der unberechenbar und widersprüchlich sein wird, um die kommenden Revolutionen zu überstehen.