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Thomas Edlinger:
Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik

ISBN: 3518126938
Erscheinungsjahr: 2015
Suhrkamp Verlag

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Volkssport Kritik
        


 
er Anspruch auf ein kritisches Bewusstsein scheint endgültig zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Eine unkritische Haltung ist dagegen so etwas wie Mundgeruch. Sie kommt nur bei den Anderen vor.« Um eine Haltung, die einst zu den Vorzügen des aufgeklärten Menschen zählte, geht es in Thomas Edlingers Essay Der wunde Punkt, heute aber allgegenwärtig und daher inflationär geworden ist: Von der Kritik ist die Rede, deren aktuelle Qualität Thomas Edlinger vor allem Unbehagen bereitet. Differenzierte Sichtweisen und Veränderungspotenzial können nicht länger mit Kritik assoziiert werden, geht es ihr heute doch vor allem um die »Ablehnung der Diskurse der Anderen« und die »triumphale, selbstgerechte Feier der eigenen, allerkritischsten Position«. Es gibt keinen kritikfreien Raum mehr, nichts existiert heute jenseits von Kritik. Kritik ist zum Volkssport geworden, konstatiert der österreichische Journalist und findet in ihr »das Missing Link zwischen Wirtshaus, Schlafzimmer und Professorenpult«. Und weil überall Kritik lauert, steigt das Maß an Beleidigtheit und Empfindlichkeit. Vor allem aus dem Internet schwappt uns eine Flut an besserwisserischer, nörgelnder, teils menschenverachtender Kritik entgegen, die schwer erträglich ist.

Thomas Edlinger arbeitet in seinem Buch verschiedene Formen von Kritik heraus und zeigt dabei auf, dass Kritik nicht per se fortschrittlich und in übertriebener Form kontraproduktiv ist. In der »opfernarzisstischen Hyperkritik« entdeckt er eine überschießende Form von Kritik, die das Trennende sucht und das Gemeinsame verlässt. In ihrer Unterscheidungssüchtigkeit verliert sie das aus den Augen, was einst gemeinsames Anliegen der Kritisierenden war. Beim Feminismus etwa ist zu beobachten, wie das Fundament, von dem aus die Kritik ihre Reise antrat, zerstört wird. Weil die Kritik so sehr darauf bedacht ist, sich von anderen Kritisierenden abzusetzen, liegt der Verdacht nahe, dass es längst nicht mehr um die Beseitigung von Missständen, nicht um Herbeiführung von Veränderung geht, sondern um die Institutionalisierung des »kritischen Geschäfts«. Die »volkstümliche Kritik« hingegen steht für die Tendenz, das Programm der Weltveränderung durch Kritik abzulösen durch die ständige Rede von der Weltverschlechterung. Dieser Miserabilismus mit seinen unmittelbar einleuchtenden Einsichten ist unwissenschaftlich und impulsiv und versucht seine Ressentiments durch die Nähe zum »Common Sense« zu verschleiern. Dabei werden Probleme dermaßen aufgeblasen, dass sie unmöglich lösbar sind.

Anhand einer Reihe von Beispielen aus den verschiedensten Lebensbereichen – vom Gegenwartskunstbetrieb über die bereits angesprochene Feminismusdebatte bis zu Trash-TV – zeichnet Edlinger die Beschaffenheit und Paradoxien der Kritik nach und lässt keinen Zweifel: Die Kritik steckt in der Sackgasse. Aber was ist die Alternative? Unter dem Begriff »Postkritik« unternimmt Thomas Edlinger den Versuch eines Auswegs aus der Sackgasse. Dabei gilt ihm Herman Melvilles Bartleby, der sich mit seinem berühmten »Ich möchte lieber nicht« jeglicher Arbeit außerhalb eng gesteckter Grenzen verweigert, als frühes Beispiel der Entsagung und bewussten Weltaskese. Als zweite Strategie bleibt Eskapismus – das Eintauchen in den Dauerkonnektivismus, die Dauerfasziniertheit von Neuem, mitzuschwimmen statt zu fischen. Am Ende führe wohl nur eine »konstruktive Auffassung der Welt« aus den »Sackgassen der Kritik«, so Edlinger. »Mehr beobachten und benennen als kritisieren und dekonstruieren« könnte der erste Schritt ins postkritische Leben sein.