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Stefan Selke:
Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert

ISBN: 3430201675
Erscheinungsjahr: 2014
Econ

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Das berechnete Leben
        


 
war beschreibt Stefan Selke in seinem Buch Lifelogging ein Phänomen, das ohne moderne Technologien nicht denkbar ist, doch spielt in dem Buch ebenso die Kuckucksuhr eine Rolle: Stefan Selke vertritt als Professor das Lehrgebiet »Soziologie und Gesellschaftlicher Wandel« an der Hochschule Furtwangen; und Furtwangen ist eine kleine Stadt im Schwarzwald, in der die Kuckucksuhr erfunden wurde und im Deutschen Uhrenmuseum die größte Uhrensammlung Deutschlands beherbergt. Diesem Umstand schuldet Selkes Buch die schöne Analogie zur Uhr, um die gesellschaftliche Bedeutung von Lifelogging klarzumachen. Denn der Soziologe vertritt die These, dass die digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung die Gesellschaft ähnlich stark verändert wie einst der Zugriff auf Uhrzeit durch Uhren. Denn erst mit dem technischen Artefakt der Uhr gelang es, Zeit als soziales Konstrukt immer exakter zu takten. Die genauere Wahrnehmung der Zeit führte dann zur Entstehung neuer Normen. So wurde Pünktlichkeit zu einer gesellschaftlichen Norm, der man sich kaum noch entziehen konnte. Diese neue, exakte Wahrnehmung der Zeit hat Folgen für das gesamte Leben: Was Arbeitszeit und was Freizeit ist, wird genau bestimmbar, ebenso wie die Leistung, also das, was jemand in einer Zeiteinheit zustande bringt.

Was passiert also beim Lifelogging, wenn alles immer genauer vermessen wird? Welche neuen Normen und damit Ansprüche und Erwartungen entstehen? Kann man sich dem noch entziehen und was passiert, wenn man sich nicht an die entstandenen Normen hält? Brisant sind diese Fragen, weil Lifelogging längst den Fitness- und Gesundheitsbereich verlassen und in viele weitere Lebensbereiche eingezogen ist. So ist der Trend etwa auch im Arbeitsbereich zunehmend zu spüren. Aus den technischen Möglichkeiten der Vermessung entspringt eine größere Verpflichtung, sich zu vermessen, sich transparent zu machen, um sich letztendlich im Arbeitskontext zu optimieren. Wird die Vermessung am Arbeitsplatz erst einmal zur Norm, wird die Selbstbewertung zur Fremdbewertung. Der Mensch wird reduziert auf eine Datensammlung, indem quantitative Aspekte, die der Vergleichbarkeit dienen, hervorgehoben werden. Es resultiert ein höchst einseitiger Blick auf das Individuum und Besonderheiten werden dann schnell zu Abweichungen. Vielfalt bleibt auf der Strecke.

Den Anstoß zu diesem Thema gaben für Stefan Selke Bilder. Es ist noch gar nicht lange her als man Fotos in Fotoalben sammelte, die als Erinnerungsanker dienten, um einen Rückblick auf das eigene Leben zu ermöglichen und nicht zuletzt um Sinnhaftigkeit herzustellen. Heute lebt jeder in einer wahren Bilderflut und es gibt Menschen, die jeden Moment ihres Lebens visuell aufzeichnen. Das eigene Blickfeld wird immer und überall protokolliert, eine Auswahl der erinnernswerten Bilder geschieht nicht mehr. Technisch ist das heute ein Kinderspiel.

Doch die Protokollierung des Lebens im Sekundentakt geschieht nicht nur visuell, sondern jegliche Daten werden erhoben. Stefan Selke beschreibt insgesamt fünf Formen der Selbstvermessung, die weit über das hinausreichen, was wir gewöhnlich unter digitaler Selbstvermessung verstehen: Quantified Self, also das Sammeln von Daten über Gesundheit, Fitness, Schlafgewohnheiten und dergleichen durch am Körper getragene Sensoren, die einfache soziale Vergleiche ermöglichen, aber auch Auslöser für Herdentrieb und sozialen Druck sind. Außerdem werden Aufenthaltsorte von Personen festgestellt, um so unterschiedliche Zwecke zu erfüllen wie den Schutz von Kindern, das Hinterherschnüffeln von Ehepartnern oder die Dokumentation der Arbeitsleistung von Mitarbeitern. Hier zeigt sich, wie nahe Lifelogging oftmals Überwachung und Kontrolle kommt. Die Selbstvermessung erzeugt sogar eine Form der digitalen Unsterblichkeit. Gedankenspiele gehen so weit – und die nötige Technik ist bereits vorhanden –, dreidimensionale Avatare verstorbener Personen zu schaffen. Schließlich kann Lifelogging persönliche Sicherheit durch Sichtbarkeit erzeugen, wie es etwa für politisch Verfolgte oder Aktivisten höchst relevant sein kann. Zudem verschafft das freiwillige Liefern von Daten ein »präventives Alibi«.

Es war nie einfacher, all diese Formen der Selbstvermessung zu betreiben, denn die Technik steht jedermann zur Verfügung. Jeder Einzelne wird sich fragen müssen, ob er sich in diese Datenwelt begeben, sämtliche Zonen der Intransparenz aufgeben möchte und letztlich damit fertig werden muss, dass – obgleich sich alles in Messgrößen und Parametern erfassen lässt, diesen Daten der Kontext fehlt und die Interpretation damit schwierig wird. »Alles, was sie leisten«, meint Selke, »ist eine Verdoppelung der sozialen Welt in Gestalt eines Datenraums«. Aber das Interessante an Selkes Ausführungen ist nicht diese Abwägung des Einzelnen, dem Autor geht es vielmehr um die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung. Das Buch umreißt eine neue Gesellschaftsordnung, die in Reaktion auf die Verbreitung von Lifelogging entsteht. Den Anstoß sieht Stefan Selke in dreierlei: »Angst, Lust und Risiko«. Nicht mehr mithalten zu können und die Kontrolle zu verlieren befördert die Entwicklung der Selbstvermessung genauso wie die Lust an der Bezifferung des eigenen Körpers. Schließlich sieht Selke noch das Risiko, dass unsere Zeit die Sozialfigur des »digitalen Versagers« entstehen lässt.

Somit ist Lifelogging ein großartiger Beitrag, der Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses nachzuspüren. Stefan Selke stellt die hochaktuelle Frage, wie moderne Technologie die Bedingungen menschlicher Existenz wandelt und was passiert, wenn Maschinen und Daten das Ruder übernehmen. Wohin führt der Effizienzwahn und was bedeutet das Unterdrücken von Zufall und Vergesslichkeit für unser Leben? Dabei verteufelt Selke Lifelogging keinesfalls, aber stellt die Entwicklungen doch kritisch in Frage. Denn es geht darum, den Technisierungsprozessen nicht blind zu folgen, sondern Möglichkeiten für eine bessere Zukunft auszumachen. Stefan Selkes Lifelogging wirft spannende Fragen auf und gibt interessante Antworten auf die Frage, wie letztlich Lebensqualität gewonnen oder verloren wird.