Das Schlagwort vom lebenslangen Lernen entwickelt sein Eigenleben, das Diplom wird wichtiger als das Gelernte an sich. Manager und Personalabteilungen suchen fähige Mitarbeiter und verlassen sich dabei auf Diplome anstatt auf Menschenkenntnis. Kein Wunder, gibt es so wenig fähige Mitarbeiter auf dem Arbeitsmarkt, wenn anhand von Diplomen anstatt von Erfahrung und echten Fähigkeiten gemessen wird. Wie will ein Unternehmen im Krieg um die Talente bestehen, wenn sie sie gar nicht erkennt?
ir leben in einem Zeitalter, in dem Erfahrungen, durch das alltägliche Handeln erworbene Fähigkeiten wenig zählen. Ohne Diplom geht auf dem Jobmarkt nicht mehr viel. Für alles und jedes kann heute ein Diplom erworben werden. Was in den 1980er Jahren prophezeit wurde, nämlich das lebenslange Lernen, ist heute Realität und wird anhand eines erworbenen Diploms gemessen. Wir haben viele diplomierte Mitarbeiter und dennoch so wenig gesunden Menschenverstand.
Wissen versus Fähigkeiten
Aus- und Weiterbildung beschränken sich heute nicht mehr nur auf reine Wissensvermittlung, sondern erheben den Anspruch, auch die entsprechenden Fähigkeiten rund um das Wissen zu schulen. Gruppenarbeiten, Praxisbeispiele und das Lösen von Fallbeispielen im Unterricht helfen die Theorie in die Praxis umzusetzen. Trotzdem können viele Lernende das per Diplom erworbene Wissen oft nicht in den Arbeitsalltag übertragen. Es zeigt sich oft, dass Wissen nicht gleich Fähigkeit ist. Was nützt ein MBA, wenn das gelernte Wissen im Umgang mit Mitarbeitern im Führungsalltag nicht angewendet werden kann?
Menschen lernen, wie man priorisieren oder entscheiden soll und sind im Berufsalltag dennoch nicht fähig, für ihre eigene oder die Arbeit der Mitarbeiter richtige Prioritäten zu setzen und sinnvolle Entscheidungen zu treffen, die dem Wohl des Systems und nicht primär dem eigenen dienen. Der Weg zum wahren Talent führt zu einem Drittel über den Erwerb von Wissen hin zu zwei Drittel Erfahrung in der Umsetzung und damit dem bestmöglichen Verhalten in bestimmten Situationen. Erfolgreich ist nicht, wer viel weiß, sondern wer sinnvolle, nachvollziehbare und pragmatische Lösungen damit für alle Betroffenen findet.
Ein Beispiel: Projektleiter sollen IPMA-zertifiziert sein. Sie lernen die Theorie des Projektmanagements, Dinge wie Projektstrukturpläne und Vorgehensmodelle, doch in der Praxis können die Hälfte der Projektleiter dieses abstrakte Wissen nicht auf ihre konkrete Projektsituation umlegen. Die andere Hälfte kämpft gegen bestehende Konventionen und Rahmenbedingungen im Unternehmen an, welche das erworbene Wissen nicht in die Praxis integrieren lassen.
Diplome im War for Talents
Seit Jahren ist die Rede davon, dass Unternehmen sich attraktiv machen sollen, um die besten Mitarbeiter für sich zu gewinnen. Heute sieht es aber oft so aus, dass die Bewerber mehr unter sich diese Buhlschaft austragen. Nur wer das richtige Diplom hat, kommt ins Rennen. Wenn heute Stellen ausgeschrieben werden, dann beschreibt die Fachabteilung die gewünschten Voraussetzungen, gibt dies zur Vorselektion an die Personalabteilung. Doch wie beschreibt man Fähigkeiten der Umsetzung, des Verhaltens? Also hält man sich an Diplome als Vorgaben und hofft. Die Personalabteilung schreibt die Stelle entsprechend aus und siebt nach Diplomen. Durch das Raster fällt, wer über die geforderten Papiere nicht verfügt.
In diesem »Krieg« zählen Diplome mehr als erworbene Leistungsausweise, die als schwieriger zu bewerten eingestuft werden. So gesiebt gelangen nur noch wenige Bewerber in die Fachabteilung, um zu einem Gespräch eingeladen zu werden. Doch so lässt sich der Krieg um die Talente nicht gewinnen, denn manch Ausgesiebter wäre oft ein viel passenderer Kandidat für den Job gewesen. Denn am Ende des Tages trifft uns diese Erkenntnis: es gibt echte Talente mit und ohne Diplom und es gibt »faule Eier« mit und ohne Diplom. Denn Diplome geben lediglich Auskunft über den theoretisch erworbenen Wissensstand, nicht aber über die Wirksamkeit, die damit in der Praxis erzielt wird. Sie sagen aus, dass die Besitzer des Diploms die Stunden des Lehrgangs hinter sich gebracht haben und theoretisch über das gelehrte Wissen verfügen. Sie sagen nichts darüber aus, wie das Wissen angewendet wird.
Was jemand gelernt hat, muss er in der Praxis nicht anwenden oder die falsche Umsetzung wirkt sogar kontraproduktiv. So zum Beispiel wenn Manager lernen, dass Ich-Botschaften in der Kommunikation mit Mitarbeitern wichtig sind, das dann aber in der Praxis falsch interpretieren und nicht merken, dass ein Satz, nur weil er mit »Ich« anfängt noch lange keine Ich-Botschaft ist. Dann wundern sich diese Führungskräfte, warum die Theorie nicht funktioniert und stellen dann diese anstatt sich selbst in Frage.
Die besten Mitarbeiter hat, wer sie sich macht
Der Krieg um die Talente wird nicht in der Personalabteilung gewonnen, sondern in der Linie. Wenn wahr sein soll, was wir predigen, nämlich, dass uns vor allem die qualifizierten Mitarbeiter wichtig und wertvoll sind, dann müssen wir in der Linie dafür sorgen, die richtigen Arbeitsbedingungen im Team zu schaffen und die richtigen Bewerber für das Team zu finden. Als Vorgesetzter muss ich abstrahieren, ob Wissen, Erfahrung und Verhalten eines Bewerbers zusammen passen und abschätzen, ob er oder sie ein Talent oder ein »faules Ei« ist. Diese Aufgabe kann die Führungskraft auch nicht an die Personalabteilung oder an ein Assessment delegieren.
Früher gab es bessere Mitarbeiter als heute, und das obwohl es viel weniger Diplomierte gab. Vermutlich wohl auch deshalb, weil die alte Garde von Unternehmern und Vorgesetzten auch wirklich führten, Mitarbeiter forderten und förderten und damit aus Wissen Erfahrung und erfolgreiches Verhalten machten. Früher war die Basis für die Mitarbeiterselektion Menschenkenntnis vor Diplomen, was scheinbar erfolgreicher war. Denn wie ist es möglich, dass wir so viel gut ausgebildete Menschen haben wie wohl kaum je zuvor und dennoch jammern, es gäbe nicht genügend gute Mitarbeiter auf dem Markt? Früher haben wir uns Menschen ausgesucht in einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt, die einen wachen und interessierten Blick hatten und haben uns die Mitarbeiter herangezogen, die wir haben wollten. Etwas, das offenbar in unserer ach so schnelllebigen Zeit undenkbar ist.
Damals waren Vertrauen und Loyalität keine Probleme und bildeten die Basis der Führung. Heute schiebt man die Verantwortung für Fehlgriffe auf andere: »Also das war nicht abzusehen, dass Herr Muster so ein Fehlgriff war. Bei diesen Qualifikationen!« Wir wollen fix fertige Spezialisten, die alles schon können, ohne ihnen die Zeit für Erfahrungen einräumen zu müssen. Doch so gewinnt keiner den Krieg um Talente. Auch oder vor allem gute Fachkräfte wollen leisten, aber auch weiterkommen. Motivierend und attraktiv ist für gute Mitarbeiter, wenn sie sich weiterentwickeln und ihre Fähigkeiten ausbauen können.
Was die wahren Talente auszeichnet
Diplome geben darüber Auskunft, was ein Fachspezialist können sollte, das ist auch gut so. Aber Fachspezialist zu sein heißt noch lange nicht erfolgreich mit und für das Unternehmen zu arbeiten. Die wahren Talente zeichnet mehr als Fachwissen aus, denn letzteres kann sich jeder relativ einfach erarbeiten. Die fähigen Mitarbeitenden, mit oder ohne Diplom, sind solche mit wesentlich anderen Fähigkeiten, sind Menschen die wollen und können:
:: leisten, aus Freude an dem, was ihre Kraft anstrengt
:: Verantwortung übernehmen und Eigenverantwortung demonstieren
:: sich ihren Job selber »machen«, und zwar ihren entsprechend Fähigkeiten und Neigungen
:: das große Ganze sehen, verstehen und ihm dienen
:: Ergebnisse liefern und Erwartungen erfüllen
:: zielorientiert und fokussiert unterwegs sein
:: vernünftig kommunizieren
:: empathisch und wertschätzend mit anderen umgehen
:: fachlich zu achtzig Prozent sattelfest sein
Am Ende zählen diese Dinge für den Vorgesetzten, wenn er von echt unschätzbaren Mitarbeitern spricht. Dann wird kein Fachwissen gemessen, sondern wie es angewandt wird, zur Umsetzung kommt, im Kontext des Unternehmens, mit den Kollegen, den Kunden und Lieferanten, den Vorgesetzten. So schwierig wäre es gar nicht, diese Menschen zu finden, denn viele bringen einiges davon schon mit. Den Rest zu fördern ist für einen Chef mit dem richtigen Führungsverhalten eine lohnende Führungsaufgabe. Denn eines ist gleich geblieben über all die vergangenen Jahrzehnte: gute Chefs haben auch gute Mitarbeiter.
Neues Verständnis anstatt Diplomitis
Wer also den Krieg um die Talente gewinnen will, muss vor sich selbst erst einmal klären, worauf Wert gelegt wird, wie ein Talent wirklich gemessen wird. Dann braucht es Fingerspitzengefühl, die Menschen zu finden, die dieses Potenzial in sich tragen. Denn stelle ich Mitarbeiter ein, die schon fix fertig perfekt sind, dann werden sie nicht lange bleiben. Denn woher soll dann ihre Motivation zum Bleiben kommen? Menschen suchen, was ihnen nützt. Ist der Nutzen auf beiden Seiten groß, dann ist auch die Motivation zu bleiben da. Und der Erwerb von Wissen, Erfahrung und erfolgreichem Verhalten ist für viele genug Nutzen, damit ein Unternehmen attraktiv bleibt.
Denn im Krieg um die Talente geht es nicht nur um das Finden, sondern auch das Halten von Mitarbeitern. Es empfiehlt sich also, im Kampf um die Talente lieber nach bestimmten Eigenschaften zu suchen und die Entwicklung und Weiterbildung der fehlenden Teile wie Wissen und Erfahrung zu fördern. Denn worauf es wirklich ankommt, ist das Verhalten gegenüber sich selbst und anderen. Und das wird heute noch viel zu wenig gelehrt und trainiert. Es ist eine der wichtigsten Führungsaufgaben, aus den Talenten wahre Perlen zu formen.