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Trendradar: Mehr »Un-« im Leben
Was ist ein Unstore, warum kommt Unconvenience, wie funktioniert eine Unconference, und wer betreibt Unbranding? Gegenwärtig feiert die Vorsilbe »Un-« Erfolge. Das Präfix ist Ausdruck von Ablehnung und deutet auf ein Zeitalter der Veränderung hin. »Un-« drückt aus, was nicht positiv formulierbar, was noch nicht konkret greifbar ist – jedenfalls aber ist es ein Symbol für den anstehenden Wandel.

Alain Egli

        


 
n-Wörter boomen, vor allem auf Englisch: Bei Twitter können Sie »unfollowen«, bei Youtube »unfavoriten«, bei Facebook »unfrienden« – letzteres vor kurzem vom New Oxford English Dictionary zum englischen »Wort des Jahres 2009« gekürt. Doch bereits 1967 pries sich die Limonade 7-Up als »Un-Cola« an, der Slogan lautete »put some un- in your life« – im nachfolgenden Mai leistete die Jugend dem Aufruf Folge und kletterte auf die Barrikaden.

Auch heute ist die neue Beliebtheit der alten Vorsilbe mehr als nur ein linguistisches Kuriosum. Die New York Times beschrieb unlängst, wie uns die Informationstechnologie mit dem »undo«-Befehl beigebracht habe, dass unsere Taten immer zurückgenommen werden können. Das passt perfekt in eine Zeit zunehmender Flexibilität und Unverbindlichkeit, und es passt zu einer durch Games geschulten Generation des Versuch-und-Irrtums: Undo – retry.

Die Un-Mode hat indes noch eine weitere Bedeutung. Als Negation steht das Präfix für Ablehnung. Unmarketing zum Beispiel beinhaltet die Forderung nach Authentizität und nach der Abkehr von leeren Versprechen. Das ist mehr als nur die Fortsetzung des gleichen mit anderen Mitteln (Interaktion) auf anderen Kanälen (Twitter, Blogs), mehr als bloß ein »beyond Marketing«. Un- ist als Zeichen des Unbehagens die Verkürzung des Wunsches nach Veränderung, eine Art Leerstelle für das, was kommt, was wir aber noch nicht richtig verstehen und benennen können – ein Symbol für eine Zeit der Verunsicherung und des Wandels.

Unbranding: Go, logo, go!
In Seattle wurde vor kurzem der 15th Avenue Coffee and Tea eröffnet. Das neue Café ist hübsch ausgestattet, viel Holz. Serviert wird handgezupfter Tee, speziell gerösteter Kaffee, Gebäck aus benachbarten Bäckereien, am Abend gibt es auch Bier und Wein. Ein unabhängiges Quartier-Kaffeehaus, könnte man meinen – stünde an der Eingangstüre nicht verschämt »inspired by Starbucks«. Mit dem Verzicht aufs Signet befindet sich der Kaffee-Gigant in guter Gesellschaft.

Nach exzessivem Einsatz ihrer Embleme in den Neunzigern geben sich neuerdings selbst Luxusmarken wie Gucci bei einzelnen Produktlinien zurückhaltend. Standen internationale Marken einst für Orientierung und Vertrauen, erwecken sie heute bei den Konsumenten zunehmend auch Misstrauen. Globalisierungsskepsis mischt sich mit der Erfahrung, für mehr Geld nicht automatisch mehr Qualität zu erhalten. Und immer mehr erscheinen Markenjünger nicht als raffinierte Kenner, sondern als überforderte Verlierer im Weltkonsumismus.

Unstore: Wandel im Handel
Langsam, aber unaufhaltsam zieht sich der Abverkauf aus den Läden zurück. Mit einem Mausklick erstehen wir Kleider bei H&M, bestellen Bücher über Amazon, laden Songs unterwegs via iTunes aufs Handy. Der Erwerb von Produkten findet immer weniger zwingend in den realen Räumen des Einzelhandels statt, sondern dort, wo sich die Menschen gerade aufhalten. Statt dass wir in den Laden gehen, kommt der Laden zu uns. Doch was passiert mit den vorhandenen Lokalen?

Die Auswirkungen auf die stationäre Handelslandschaft sind vereinzelt bereits beobachtbar, eine radikale Vision zeigt die Sammlung verlassener amerikanischer Einkaufszentren auf deadmalls.com. Werden die Geschäfte also allesamt verschwinden? – Nein, aber sie werden sich komplett neu erfinden: Ausstellungsraum ohne Verkaufstheke, Probierlabor mit Beratung, Dienstleistungszentrum für die Kundenbetreuung. Bis anhin war der Laden in erster Linie eine Verkaufsfläche, in Zukunft wird der Store zum Unstore.

Unconvenience: Unbequeme Komfortzone
In modernen Zoos können Tiere ihr Futter selber jagen, zu viel Komfort macht sie traurig und krank. Aber auch Menschen suchen plötzlich Anstrengung: Wo alles nur bequemer wird, sehnen wir uns nach beschwerlichen Erfahrungen. Das bedeutet Gegenwind für Convenience-Angebote. Konsumenten bewerten selbstgekochte Mahlzeiten heute deutlich höher als vorgefertigtes Essen. Wer als Anbieter den Wohlfühlfaktor steigern will, muss den Konsum paradoxerweise also anstrengender machen – unconvenience.

So hat das japanische Architektenpaar Madeline Gins⁄Arakawa für das Wohnen im Alter bewusst unbequeme Häuser gebaut. Mit unebenen Böden, Kletterstangen statt Treppen und schwer erreichbaren Lichtschaltern wollen sie die Bewohner jung und fit halten – für die Harvard Business Review eine »breakthrough idea for 2009«.

Unconsumption: Suffizienz und Stil
Das »age of less« verändert unser Konsumverhalten zunehmend. Nicht mehr die Beschaffung von Waren steht im Vordergrund, sondern der kompetente Gebrauch und die Entsorgung: langjähriges Tragen von Kleidungsstücken, kreatives Verwerten, Vermeiden von Abfällen. Das ist mehr als nur Recycling-Chic, Unconsumption orientiert sich am ökologischen Prinzip der Suffizienz: mit weniger Ware und Geld besser leben.

Dass der Verzicht auf exzessiven Konsum nicht das Ende von Stil und Glamour bedeutet, zeigen die Einfälle auf dem Unconsumption-Blog des NYT-Journalisten Rob Walker. Selbst die tonangebende Vogue-Chefredaktorin Anna Wintour empfiehlt Kleider-Recycling, und Mode-Ikone Vivienne Westwood ruft in einem Manifest gar explizit dazu auf, weniger zu kaufen und besser auszuwählen: »I offer no choice but to ask for the end of indiscriminate consumption. If you have to choose something, save up and choose well.«

Unpackaging: Es fallen die Hüllen
Wie online erworbene Weihnachtsgeschenke in Zukunft verpackt sein werden, das zeigte Amazon vor einem Jahr: nämlich gar nicht. Das Programm »Frustration Free Packaging« war eine Reaktion auf Beschwerden von Kunden, wonach die Produkte von Amazon übermäßig verpackt seien. »Frustrationsfrei« wurden gewisse Produkte der Spielzeug- und Elektroniksparte darum ohne die im Einzelhandel üblichen Original-Verpackungen aus Hüllen, Plastik und Styropor verschickt. Amazon musste dazu mit den Herstellern zusammenarbeiten, um die Artikel direkt ab dem Montageband zu beziehen.

Aber auch HP liefert seine Laptops neu ohne Karton und Styropor in eigens designten Taschen aus wiederverwerteten Materialien aus. Offensichtlich wollen immer mehr Konsumenten den wachsenden Abfallbergen nicht bloß untätig gegenüber stehen. Das zeigt sich auch beim Ruf nach Verboten von Plastiktüten und Pet-Flaschen. Die Ausnahme könnte hier sehr bald zum Normalfall werden.

Unpricing: Der Preis ist nur noch lauwarm
Als Pricing-Instrument ist »Pay what you wish« (PWYW) seit langem anerkannt: Eine Gruppe von Pionier-Nutzern wird befragt, wie viel sie für ein Produkt zu bezahlen bereit wären, die Angaben weisen dem Hersteller ein passendes Preis-Segment. In jüngster Zeit werden aber Stimmen hörbarer, die PWYW radikal als Alternative zur Preisfindung einsetzen wollen – als Unpricing-Instrument sozusagen. Der Ökonom José Fernandez von der Universität Louisville wagt sogar die Behauptung, PWYW könne höhere Profite einbringen als die klassische Preisfestsetzung, weil die oft hohen Kosten der Preisfindung eingespart würden.

Erfolgreich praktiziert wird Unpricing bereits heute unter anderem von den drei Weinerei-Restaurants in Berlin: Jeder Abendgast steckt beim Verlassen der Weinerei so viel in die Kasse, wie der Abend ihm wert war. Unpricing betreibt auch die Chicagoer Anwaltskanzlei Valorem: Ihre Mandanten dürfen jede Rechnung nach Belieben bzw. Zufriedenheitsgrad korrigieren.

Unrestaurant: Auswärts daheim
In Diktaturen kann sogar Essen subversiv sein. Mitte der Neunziger Jahre machte das kubanische Regime die »Paladares« als sozialismusgefährdend aus: Esszimmer in Privathäusern, die gegen Bezahlung Gäste bewirteten. Immerhin wurden sie als Ventil für die gastronomische Mangelwirtschaft geduldet – aber nur mit maximal vier Tischen und zwölf Stühlen.

Einige Jahre später schwappte das Konzept nach Argentinien, als dort gerade sämtliche Wirtschaftskreisläufe zusammengebrochen waren und das Leben trotzdem weiter gehen musste. In Europa breiten sich Unrestaurants derzeit auch ohne Notstand aus. In London etwa will The Secret Ingredient (knapp 2000 Fans bei Facebook) jeden Mittwochabend gutes Essen und ebensolche Konversation im Esszimmer offerieren.

Unmodel: Germany's next Durchschnittsfrau
»Weil Schönheit viele Gesichter hat«, bricht Deutschlands marktführende Frauenzeitschrift Brigitte jetzt mit einer Branche, mit der Modemedien bislang quasi-symbiotisch verbunden waren: der Model-Industrie. Ab sofort keine einzige Bildstrecke mehr mit professionellen Fotomodellen, sondern nur noch »mit Frauen wie Ihnen und uns«. Just in dem Moment, wo die Casting-Shows allen Mädchen erklärt haben, wie man als Mannequin richtig läuft, posiert und zickt, verabschiedet sich also einer der wichtigsten Nachfrager.

Nachdem die Kosmetikmarke Dove und der Detailhändler Migros bereits wiederholt Werbekampagnen mit »normalen« Frauen durchführten, sieht sich die Brigitte-Redaktion jetzt mit Recht als Teil einer größeren Bewegung: «Die Mode hat sich geändert. Die Frauen haben sich verändert. Unsere Welt ist eine andere. Also starten wir eine Revolution.»

Unconference: Turn on, tune in
Blogs, Twitter und Webcasts wirken auf konventionelle Konferenzen zurück und brechen die herkömmlichen, hoch organisierten Formate. In Palo Alto (Kalifornien) fand 2005 die weltweit erste Unkonferenz statt, inzwischen ist sie zu einem globalen Phänomen geworden. Eine Unkonferenz (auch Barcamp genannt) entwickelt sich ohne vorgängig festgelegtes Thema und ohne Trennung zwischen Publikum und Rednern. Ein Organisator übernimmt die Rahmenplanung, die einzelnen Inhalte werden von den Teilnehmern produziert. Themen und Verlauf der Gespräche ergeben sich von selbst. Die Leute kommen nicht mit fertigen Vorträgen, sondern mit Ideen, die in Unworkshops erörtert werden. »In diesen Sitzungen ist nichts von vornherein klar«, sagt Veranstalter Jay Cross, »das ist ihr Un-Anteil. Er ist eingebaut, weil Unsicherheit den Geist auf Touren bringt«. Honorare werden keine bezahlt, die Teilnahme ist kostenlos. Sponsoren finanzieren Infrastruktur und Verpflegung.

Unteaching: Entlehrert lernen
Im Wissensmagazin GDI Impuls propagierte der Ex-Aldi-Manager Dieter Brandes Anfang 2009 die »Schule ohne Lehrer« als zukünftige Umsetzung des Discount-Prinzips. Angesichts der großen Quantität und Qualität von Bildungsmedien bräuchten Schüler nicht so sehr einen Lehrer, der Wissen vermittle, sondern einen Coach oder Mentor, der zeige, wie man selbst Wissen erlangen könne.

Die australische Künstlerin Flossie Peitsch praktiziert das bereits. Sie hat mit Kunststudenten ein sogenanntes »Unteaching« ausprobiert, wobei die künstlerische Leistung in einem mehrstufigen Prozess im Austausch zwischen den Studenten selbst entstand. Gerade wenn es darum gehe, neue Wege einzuschlagen, biete sich ein solches Verfahren an, resümiert Peitsch ihre Erfahrungen. Dadurch sei es möglich, tradierte künstlerische Klischees zu »entlernen«.

Unpossessing: Überdruss vom Überfluss
Status, Ansehen und Anerkennung erwachsen zunehmend aus immateriellen Werten, mit (Luxus-)Objekten gewinnt man in unseren Breitengraden kaum noch Prestige. Die Umweltdebatte verringert das Streben nach Waren zusätzlich. Im Gegenzug gewinnt der Besitz auf Zeit an Attraktivität, die Nachfrage nach neuartigen Mietservices wächst: Von Kleidung über Handtaschen (bagborroworsteal.com) und Schmuck (borrowedbling.com) bis hin zu Einrichtungsstücken kann man fast alles borgen. Babyplays in Texas und Dim Dom in Frankreich bieten Spielsachen im Abonnement, ähnlich den in der Schweiz verbreiteten Ludotheken. Überhaupt gehört die Schweiz als Land der Mieter zu den Vorreitern des nun zunehmenden Unpossessing: Das Car-Sharing wurde hier schon vor über zwanzig Jahren erfunden.

Uneconomy: Beginn der Reconquista
Die wachsende Vernetzung der Welt hilft den Konsumenten, gemeinsam die Kontrolle über Produkte und Produktion zurückzuerobern. In sozialen Netzwerken und auf Online-Plattformen reden Menschen über Waren und Unternehmen, lancieren Aufrufe und Boykotte. Unternehmen versuchen, das innovative Potenzial der Kunden in sogenannten Open-Source-Ansätzen für ihre Produktentwicklung anzuzapfen. Gleichzeitig werden Leute selber aktiv, etwa indem sie einander auf Peer-to-peer-Plattformen wie Zopa Geld ausleihen.

Solche Umwälzungen unterlaufen die klassischen Hierarchien der durchökonomisierten Gesellschaft. Das wiedererwachte Interesse am Genossenschaftswesen fügt sich da nahtlos ein: Eine Kooperationsform erstrahlt plötzlich in neuem Glanz, in der die im Handeln in Netzwerken geübten und vom rein gewinnmaximierenden Verhalten vieler Unternehmen frustrierten Konsumenten dauerhaft Einfluss auf die Produktion nehmen können.  

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI).