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Roter Drache oder zahnloser Tiger?
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Wirtschaftspresse nicht den Aufstieg Chinas zur neuen Supermacht prophezeit. Was gibt Anlass zu solchen Lobeshymnen und besteht wirklich Grund zu derartiger Euphorie?

        


 
ie unzähligen Schlagzeilen über die Wirtschaftsentwicklung in Indien, das sich zum bevorzugten Outsourcingziel vieler westlicher Unternehmen entwickelte, werden derzeit verdrängt von einer neuen asiatischen Erfolgsgeschichte: der Aufstieg Chinas zu einer Wirtschaftsmacht durch enorme industrielle Stärke und Exportkapazität.

Aufstieg zur Wirtschaftsmacht
1978 begann die chinesische Führung, die bislang träge, ineffiziente Zentralverwaltungswirtschaft in ein stärker marktorientiertes System umzuformen. Trotz des strikt kommunistischen Regimes auf politischer Ebene gewannen nichtstaatliche Organisationen und einzelne Bürger stetig an wirtschaftlichem Einfluss.

Die kollektive Landwirtschaft wurde zugunsten einer eigenverantwortlichen Bodenbewirtschaftung abgelöst, nichtstaatliche Unternehmen wurden in der Industrie zugelassen und konkurrieren dort seitdem mit Staatsbetrieben. Vor allem die internationale Öffnung der Wirtschaft für Handel und Investitionen leistete einen großen Beitrag zum starken Wirtschaftswachstum. Mit seiner Heerschar billiger Arbeitskräfte hat sich China den Ruf einer »Fabrik der Welt« erworben, die die Märkte mit seinen Produkten »made in China« regelrecht überschwemmt. Der erfolgreiche Eintritt in den Weltmarkt vor allem durch die hohen ausländischen Direktinvestitionen ist die entscheidende Triebfeder für Chinas ökonomischen Aufstieg.

Als Ergebnis dieses ökonomischen Wandels vervierfachte China sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1978. Gemessen auf Basis der Kaufkraftparität nimmt China mit seinem BIP von 7,26 Billionen US Dollar in 2004 den Rang der zweitgrößten Volkswirtschaft hinter den USA ein. Schon seit Jahren wächst das BIP mit jährlich mindestens acht Prozent.

Roter Drache im Gegenwind
Angesichts dieser Erfolgsmeldungen drängt sich die Frage auf, ob Chinas ökonomischer Aufstieg unaufhaltsam ist. Kann die Volkswirtschaft des Reichs der Mitte derart rasant weiter wachsen und die etablierten Wirtschaftsmächte von ihren Spitzenpositionen verdrängen? Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt, dass China im Jahr 2041 die USA vom Spitzenplatz als weltgrößte Volkswirtschaft verdrängt haben wird; und schon 2016 wird China alle anderen Länder überholt haben und an zweiter Stelle stehen.

Zunächst lohnt sich ein genauerer Blick auf die Datenlage. So ist es zwar richtig, dass das BIP in absoluten Zahlen China unter die größten Wirtschaftsmächte katapultiert, betrachtet man jedoch das BIP pro Kopf, entpuppt sich China als armes Land: Mit 5.600 US Dollar rangiert es an 121. Stelle; zum Vergleich: die USA erwirtschaften ein BIP pro Kopf von 40.100 US Dollar.
Obwohl China als Weltfabrik gesehen wird, arbeiten nur weniger als ein Fünftel der Erwerbsbevölkerung in Fertigung, Bergbau und Baugewerbe. Tatsächlich verlor China seit Mitte der neunziger Jahre Millionen von Arbeitsplätzen in der Fertigungsindustrie. Fast die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung ist immer noch in der Landwirtschaft tätig.

Als zweischneidiges Schwert offenbaren sich die direkten Auslandsinvestitionen, die zwar zu einem großen Teil den Wachstumsschub erst brachten, Chinas Wirtschaft nun aber äußerst abhängig von den Geldflüssen aus dem Ausland machen.

Chinas Bankensystem ist eine weitere Quelle ökonomischer Instabilität. Da die ehemaligen Staatsbanken lange Zeit kränkelnden Staatsunternehmen mit Krediten unter die Arme griffen, um Arbeitsplätze zu sichern, haben die Banken nun ein hohes Maß uneinbringbarer Kredite zu schultern. Diese staatlich angeordnete Kreditvergabe an verlustträchtige Staatsbetriebe ist auch Ausdruck für die ineffiziente Verteilung von Ressourcen in China.

Nicht zuletzt die Umweltverschmutzung könnte sich als ein Klotz am Bein der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung erweisen: Luftverschmutzung, Bodenerosion und der stete Rückgang des Wasserspiegels vor allem im Norden sind große und weiter wachsende Probleme. China verfügt über ein Fünftel der Weltbevölkerung, aber nur über zwölf Prozent des weltweit bebaubaren Landes – wegen der hohen Umweltverschmutzung mit abnehmender Tendenz.

Aus gesellschaftlicher Sicht wird die Ein-Kind-Politik große Herausforderungen bereithalten, die China einen Platz unter den heute am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt bescherte.

China kämpft mit stetig zunehmender Arbeitslosigkeit und sich ausweitenden Einkommensunterschieden zwischen den weiter entwickelten Küstenregionen und den landwirtschaftlichen Gebieten. Die Arbeitslosigkeit rührt hauptsächlich von Produktivitätszuwächsen im Agrarsektor, einem massiven Arbeitskräfteabbau aufgrund von Umstrukturierungen in der Industrie sowie Einschränkungen der Arbeitskräftemobilität her. Das 1958 eingeführte System »Hukou« verbietet der Landbevölkerung, ihren Geburtsort zu verlassen und anderswo Arbeit zu suchen. Die sozialen und interprovinziellen Gefälle sind immer häufiger der Anlass von Unruhen.

Der neuerworbene Reichtum konzentriert sich vor allem auf die Metropolen und die Küstenstädte. Aber nicht nur zwischen Stadt und Land zeigt sich ein gravierendes Einkommensgefälle, auch innerhalb der Metropolen tun sich große Unterschiede zwischen Arm und Reich auf. Im Jahr 2004 verfügten die reichsten zehn Prozent der Pekinger über ein Durchschnittseinkommen von umgerechnet 1803 Euro pro Person, die ärmsten zehn Prozent kamen auf 303 Euro – das entspricht einer Relation von rund eins zu sechs.

Die chinesische Führung muss außerdem die weit verbreitete Korruption und Überbürokratisierung in den Griff bekommen, Rechtssicherheit, Unabhängigkeit von Gerichten und Produktschutz müssen verbessert werden. Mängel in der Infrastruktur behindern nur allzu oft Versorgung, Handel und Produktion, vor allem in abgelegenen Gebieten.

Das Rad am Laufen halten
Die aktive Wirtschaftspolitik der chinesischen Führung erklärt sich auch nicht zuletzt aus der Tatsache, dass China ein nicht unbeträchtliches Wirtschaftswachstum schon allein deswegen benötigt, um mit den gravierendsten Problemen fertig zu werden, wie etwa den Umbau der Staatsbetriebe, die Bekämpfung der hohen Arbeitslosenrate oder die Reform des Finanzsektors. Viele Experten sprechen mit Blick auf China deswegen auch von einer »Fahrrad-Ökonomie«: Genauso wie ein Fahrradfahrer nicht zu langsam werden darf, um nicht umzufallen, darf auch Chinas Wirtschaft nicht zu langsam wachsen, da sonst die Probleme Überhand nehmen.

So ist auch zu erklären, dass insbesondere unter den jungen Chinesen Einkaufen und Konsum zum Volkssport wurden. Animiert durch einen Staat, der stärker auf die Ersparnisse der Bürger zugreifen will, um die private Nachfrage anzukurbeln, entstand eine junge Mittelschicht, die ihr Geld mit vollen Händen ausgibt. Um so die Wirtschaft in Gang zu halten, ist der Pekinger Regierung scheinbar jedes Mittel Recht: Die Staatslenker verordneten dem Volk Urlaub für den Konsum und führten arbeitsfreie Tage ein, an denen die Geschäfte besonders lange geöffnet haben.

Aufwind durch Demokratie
Als Ergebnis seines hybriden Systems scheint China das schlimmste beider Welten zu vereinen: der Kommunismus bringt Bürokratie und Trägheit mit sich, während mit dem Kapitalismus wachsende Einkommensunterschiede und eine steigende Arbeitslosigkeit Einzug halten. Die wirtschaftlichen Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass China ein von einer diktatorischen Einparteienherrschaft reguliertes Land ist, in dem persönliche Rechte, Freiheit, Pluralität und Demokratie wenig gelten.

Oft wird behauptet, Demokratie sei die stärkste Antriebskraft für wirtschaftliche Aktivität. Wenn dem tatsächlich so ist, ist ein Halt des wirtschaftlichen Erfolgs in China vorprogrammiert und es wird zweifellos im Wettlauf mit Indien um die wirtschaftliche Vormachtstellung in Asien zurückfallen. Langfristig wird ein politisches System nur dann stabil sein können, wenn es wirtschaftliche und soziale Neuerungen mit politischen erfolgreich vereint.

In diesem Sinne ist der Aufstieg des demokratischen Indiens nachhaltiger: Regierungsinterventionen und fehlende Freiheiten legen den chinesischen Geschäftsleuten Fesseln an, während die indische Regierung immer weniger interventionistisch agierte, vielmehr seine Unternehmer frei gewähren ließ und auf diese Weise eine kreative Unternehmerkultur schuf.

Von Chinas Aufschwung profitieren
Die in europäischen und amerikanischen Medien mit dem gigantischen Wirtschaftsaufschwung vielfach verknüpfte Angst vor China scheint unbegründet. Ganz im Gegenteil: Geht es China wirtschaftlich besser, kann das auch für unsere Volkswirtschaften große Vorteile bringen, berücksichtigt man, dass China nicht nur ein begehrtes Outsourcingziel für billige Produktion von Massenware ist, sondern mit 1,3 Milliarden Einwohnern auch einer der größten Absatzmärkte.

Zudem erzählen die nackten Wirtschaftsdaten selten die komplette Geschichte: Chinas unglaubliche Wachstumsraten hat das Land vorrangig dem Produktionssektor zu verdanken. Größeres Potential der Einkommenssteigerung steckt aber sicherlich in Leistungen mit höherer Wertschöpfung, wie sie hauptsächlich der Dienstleistungssektor hervorbringt. Auch dies ist ein Grund, warum Indien, das hauptsächlich durch Outsourcing im Dienstleistungsbereich stark wurde, die Schlagzeilen bald wieder beherrschen wird. Auch die EU ist durch einen höheren Bildungsstand sowie eine zunehmende Konzentration auf die Produktion immaterieller Güter dem roten Drachen mehr als nur eine Nasenlänge voraus.

Damit der Handel mit China weiter unsere Produktivität erhöhen und Preise senken wird, darf die EU daher nicht an Schwung verlieren bei der Entwicklung der Union hin zu einer wissensbasierten Ökonomie.