Intendanz: Eine neue Sicht auf Unternehmensführung
Brauchen wir eine neue Perspektive auf Unternehmensführung? Die großen Herausforderungen von heute stellen die Frage nach den Qualitäten einer »Führungselite« – gerade wenn wir Führung gesellschaftspolitisch verstehen wollen. Wer übernimmt Verantwortung für organisationale und gesellschaftliche Inszenierungen? Intendanz könnte ein Modell für die Führung der Zukunft sein.

Andrea Günter

        


 
ie stellen wir sie uns heutzutage vor, eine zeitgemäße Führungskraft? Nach Zeiten psychologischer Einsichten in die Organisationskultur von Unternehmen, aber auch aufgrund der Erfahrungen mit dem prekären Charakter der Wirtschaft, ferner mit den Folgen einer zunehmend weltweiten Verflechtung von Wirtschafts- und Gesellschaftsprozessen konfrontiert, was müssen wir für die nächsten Jahrzehnte von Führungskräften verlangen, über welche Skills sollten sie verfügen?

Halten wir die Führungskräfte, die uns derzeit vorwiegend begegnen, für richtungsweisend: für urteilsfähig, urteilsmächtig, kompetent, was eine verträgliche Zukunft des Wirtschaftens betrifft? Für urteilssicher genug, nicht nur in dem vorgegebenen Rahmen, der in ihrem jeweiligen Unternehmen den aktuellen Status quo bildet, sondern so weitsichtig und weltzugewandt zu agieren, so wie es das 21. Jahrhundert von uns verlangen wird, in Wirklichkeit schon längst verlangt?

Was sind die Bezugspunkte, die uns Kriterien liefern, wenn wir die Qualitäten einer »Führungselite« bestimmen wollen? Darüber, wie sie in der Geschichte ihres Unternehmens und dessen momentaner Entwicklung, in den bereits vorhandenen Beziehungsnetzen verwurzelt ist? Inwiefern müssen sie über die Vergangenheit und eingefahrene Strukturen hinausdenken können?

Ist außerdem die Finanzkrise nicht auch eine Führungskrise? Welche Führungsqualitäten sind also gerade in wirtschaftlichen Umständen gefragt, die sich nicht nur zunehmend, sondern gerade grundsätzlich als prekär herausstellen und deshalb spekulierendes Verhalten zu verlangen scheinen?

Haben wir, und das nicht erst seit des Zusammenbruchs der Stromversorgung in Japan, an der Erfahrung zu knabbern, dass das einfache Verlagern von Herstellungsprozessen und Tätigkeiten ins fernste Ausland zu häufig gerade nicht weitblickend ist, weil es lediglich das, was daheim geschieht, an einem anderen Ort genauso wiederholen will, das sich aber aufgrund der Distanz als unmöglich herausstellt?

Was verlangt es, eine tatsächliche Entfernung zu bedenken? Bei dieser geht es offensichtlich nicht um die Anzahl der Kilometer und Zeiteinheiten, die ein Tachometer mechanisch herunterrattert, ebenso wenig um die Zählung der Nationen, aus denen die verschiedenen Mitarbeiter in einem Unternehmen kommen. Kann Diversity gemanagt werden? Ist nicht vielmehr das Durchschreiten von Welten, von kulturellen, Organisations- und von Seelenwelten vonnöten? Wie kann hier geführt werden?

Außerdem gibt es immer mehr Menschen, die in einem Unternehmen arbeiten wollen, das weltverträglich ist. Darüber hinaus gibt es solche, die sich gerne in Projekten mit politischer Weitsicht engagieren würden, aber nicht so recht wissen, wie sie sinnvoll ansetzen können. Auch gesellschaftsökonomisch innovative Ideen gibt es viele. Allerdings, welche Art von Führung brauchen gesellschaftsökonomisch engagierte Unternehmen und Projekte? Was haben die einen Bereiche mit den anderen zu tun, wenn es um Führungsprofile geht?

Welche Qualität von Führung brauchen wir daher, wenn wir Führung grundsätzlich gesellschaftspolitisch verstehen? Welche brauchen einzelne, individuelle Unternehmen, um sich der Aufgabe zu stellen, dass sie nicht einfach ein Produkt herstellen und verkaufen, sondern sich Klienten- und Produktorientierung als gesellschaftliche Passungsfrage erweisen, sie also auch Verantwortung für die Entwicklung der Menschheit und der Welt übernehmen müssen?

Letztlich, welche Verantwortung haben diejenigen, die Führungskräfte qualifizieren und Organisationen entwickeln, für die Zukunft dessen, was wir von Führungskräften verlangen können und dürfen?

Solche Situationswahrnehmungen sind der Anlass für eine Gruppe von systemisch arbeitenden und ausbildenden Coachs am Institut für Systemische Beratung in Wiesloch, sich an eine neuartige Profilbeschreibung einer Führungskraft zu wagen. Zu dieser Initiative eingeladen hat der Institutsgründer und -leiter Bernd Schmid, der auch den richtungsweisenden inhaltlichen Impuls setzt: eine Führungskraft der Zukunft könnte ein Intendant sein.

Intendanz und Unternehmensführung
Haben Intendanten an feudalen Höfen die Kleiderkammer verwaltet, so verstehen wir unter Intendanten heute diejenigen, die Theater, Festhäuser, Rundfunk- und TV-Anstalten leiten, Orte und Organisationen also, die in westlichen Kontexten die wichtigsten sprechenden Medien und ihre Darstellungsformen präsentieren.

Eine Intendanz ist eine erprobte Leitungsfunktion. Was an der Führungstätigkeit gerade des Intendanten fasziniert, ist, dass hier zwei sehr unterschiedliche, scheinbar widerstreitende Tätigkeitspole zusammen von einer Führungsperson vertreten werden: Verwaltungsaufgaben und künstlerische Entwicklung können gleichermaßen in einer Funktion integriert sein.

Ein Intendant ist eine Art Generalist, allerdings eine sehr besondere Art von Generalist. Gleichzeitig Verwaltungstyp und künstlerischer Innovator, Pragmatiker und Überzeugungstäter, geschickt im Umgang mit unterschiedlichsten Charakteren und steuerungsorientiert, eine Liebe für das Fragile haben und perfektionistisch sein, was das Projekt betrifft, die Tradition eines Hauses bewahren und innovativ Entwicklungen vorantreiben, größer und widersprüchlicher könnte die Spannung eines Tätigkeitsfeldes kaum angelegt sein.

Dabei gilt für das Unternehmen eines Intendanten, es gibt nicht einfach ein fertiges Produkt. Es gibt eine Form, in der gesprochen und gearbeitet wird, Verbindungen nach innen und außen gehalten und ausgebaut werden. Die Produkte müssen immer wieder neu von Programm zu Programm entwickelt, hierfür sehr unterschiedlichen Menschen und Berufszweige – Regisseure, Musikdirektoren, Schauspieler, Dekorateure , aber auch Stadträte, Kulturpolitiker, Bürger – im wörtlichen und im übertragenen Sinne Bühnen angeboten, in Teams integriert, eine Linie für ihr Zusammenwirken bestimmt, ein thematisches und künstlerisches Profil kommuniziert werden.

Im Gegenteil, gerade im Bereich des Theaters wird deutlich, dass das Pragmatische ohne avantgardistisches Beleben – sei dieses progressiv, sei es graziös –, materielos, sinnleer ist. Sofern steht die Intendanz nicht für das Ökonomische, wird vor allem mit dem Künstlerischen und Programmatischen identifiziert. Oder? Die besondere Beschaffenheit der Intendanz, das angedeutete Spannungsfeld zu integrieren, erzeugt einen spezifischen Mehrwert, materialisiert in der intelligenten Kombination von Pragmatischem und Programmatischem, Künstlerischem, gerahmt durch das Einstehen für wegweisende kulturstiftende Impulse. Derart stellt es eine signifikante Verbindung von Haus-, Handlungsmacht, Kulturentwicklung und Ökonomie dar.

Veränderung beleben
Ein Intendant braucht eine ausgebildete Vorstellungskraft. Er muss weit in die Zukunft sehen können. Er muss ein Bedürfnis nach Veränderung haben, nach einer anderen Welt, angefangen mit einer andern Sicht, nicht bloß auf die Dinge, sondern gerade auch auf die Gewohnheiten der Welt, so dass vorherrschende ästhetische Normen überwunden werden können. Er baut auf die Bereitschaft, der Welt eine sinnhaltige Gestalt zu geben. Er braucht zu all dem Worte, die ihn formulieren lassen, wie das Drehbuch heißt, das auf diese Veränderungen auszurichten hilft. Und er muss bereit sein, das gesamte Drehbuch zu schreiben.

Entwicklungen von der Zukunft her denken, die Reflexivität auf Veränderung ausrichten: darin spiegelt sich eine Haltung, die bis zu einem gewissen Grade auch eingeübt und geschult werden kann. Passende Reflexionsfragen können helfen: Etwas ändern wollen, wie geht das in der spezifischen Rolle und Leitungsfunktion? Wie ist es in genau diesem Unternehmen und seinen Zusammenhängen möglich? Was muss fortgeschrieben werden, damit es bewahrt werden kann, Konsistenz erhalten bleibt? Wie kann die Innovation in Szene gesetzt werden?

Grundsätzlich kann die Metapher der Intendanz bei der Profilierung von Führungsprofilen auch als Differential dafür genutzt werden, eine neue Perspektive zu gewinnen: Wenn ich mit der Vorstellung »Intendanz« in die nächste Vorstands- oder Teamsitzung gehe, was ist dann anders? Was wird wesentlicher? Was inszeniert ein Intendant als Führungsauftrag?

Hüter der sich entfaltenden Form
Die Intendanz kann ein neues Sinnbild für Führung sein, diese Idee legt sich nahe, wenn man wahrzunehmen beginnt, dass wir in einer Zeit leben, in der viele Menschen sich für Ideen begeistern, weil sie nach gesellschaftsökonomischen Alternativen für das Zusammenleben und die Arbeitswelt suchen. Sie wollen sich nicht länger mit dem abfinden, was sie vorfinden, sondern vorausschauend tätig werden, Initiative ergreifen. Doch der gute Wille allein genügt ebenso wenig wie die guten Ideen.

Manche Ideen finden sogar leicht Investoren oder Sponsoren. Über den Anfangsimpuls hinaus müssen Initiativen gut organisiert werden, sollen sie nachhaltig Wirksamkeit entfalten. Gesellschaftliche Projekte benötigen eine spezielle Professionalität, so Bernd Schmid in seinem Thesenpapier.1 Sie bedürfen Hüter der sich entfaltenden Form: Menschen, die einen Sinn für die Interessen haben, die ein Projekt zum Ausdruck bringt, für die dazu passende Form und für Entfaltungsprozesse. Sie müssen sich auf diejenigen einstimmen, die sich für das Projekt engagieren, und deren Potential nutzen können. Sie müssen ferner nach außen wirken, das Projekt in vorhandene Zusammenhänge hineinzuwirken vermögen.

Was braucht es, damit ein Projekt zur Welt kommt und Bestand erhält? Wie kann es in das vorhandene Bezugsgewebe eingebunden werden, so dass dieses sich zwar verändert, hoffentlich öffnet, aber dennoch stabil bleibt? Einen Sinn, aber auch Steuerungskompetenzen für sich entfaltende Formen bringen einzelne Persönlichkeiten mit, aber sie können auch geschult werden. Intendanz als Grundfigur einer Führungskräfteschulung wird von unserer Gruppe gerade entwickelt.

Wirtschaft als Intendanz
Was darüber hinaus anders ist, wenn eine Führungskraft im Sinne der Intendanz vorgeht? Während die Frage nach der Kultur in einem Unternehmen üblicherweise nachrangig behandelt, oft als Zugabe begriffen und in zweiter Reihe entwickelt wird, ist die Kulturentwicklung der zentrale Gegenstand der Produktion einer Intendanz. Die gewohnte Reihenfolge kehrt sich also um. Statt zuerst zu handeln und danach auf die Kultur zu achten, bildet die Kultur den Dreh- und Angelpunkt des Handelns.

Um hier keinem unbedachten Ideal zu huldigen, was die Verortung der Kulturentwicklung in kulturschaffenden Organisationen betrifft: Natürlich bringt ein jedes Theater, eine jede Rundfunkanstalt, ein jeder Festspielverein eine individuelle Organisationskultur mit, die mit dem Genre ebenso wie mit der Geschichte der jeweiligen Einrichtung zu tun hat. Sie können charismatisch, aber auch autoritär geführt sein. Unabhängig davon haftet ihr in jedem Fall die Aura des Schöpferischen an.

Schöpferisches, das Kulturentwicklung zur Aufgabe hat: die Intendanz ist eine Ansage, kündigt kulturelle Entwicklung an. Vielleicht handelt sie von der Ansage, die Dualisierung von Tätigkeitsbereichen zu überwinden, die wir immer noch in falscher Weise zu unterscheiden und zu trennen gewohnt sind, Kultur und Profit-Ökonomie, Politik und Wirtschaft. Vielleicht verweist die Intendanz gerade auf die Herausforderung, die im engeren Sinne gemeinten wirtschaftlichen Einrichtungen neu zu fassen? Vermögen wir Wirtschaft zunehmend als einen schöpferischen Akt begreifen, der Kulturentwicklung zur Aufgabe hat? Vermögen wir Wirtschaft ganz konsequent als eine Kulturleistung zu verstehen? Als verständige Kombination von Steuerungs-, ökonomischen und Zukunft entwickelnden Fakten zur Erreichung eines gesellschaftlichen Mehrwerts? Als intelligentes Zusammenspiel von Stabilität und Beweglichkeit?

Der individualisierten Profit-Wachstums-Ideologie kann etwas entgegensetzt werden. In der Figur des Intendanten ist eine Weichenstellung für ein außergewöhnliches kulturökonomisch konzipiertes Führungsverhalten zu finden. Der Erfolg dieses Führungsprofils misst sich nicht einfach an den schwarzen Zahlen, sondern an der breiten Aufnahme des Publikums, das sich gesellschaftökonomische Veränderungen wünscht und bereit ist, dafür Verantwortung zu übernehmen.  

 

1 Schmid, Bernd (2009): Intendanten – Professionalität für gesellschaftliche Projekte. URL: www.systemische-professionalitaet.de/isbweb/component/option,com_docman/task,doc_download/gid,1618/
 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/1108b/1108b.htm