Wunderwaffe oder Feigenblatt? Was Coaching leisten kann
Nichts ist heute so sicher wie Veränderung. Der Alltag in Organisationen hält daher stets neue Herausforderungen für Führungskräfte und Mitarbeiter bereit. In dieser Situation steigt die Nachfrage nach Coaching: Der externe Blick soll Ressourcen mobilisieren, Potentiale freisetzen und Orientierung geben. Der Coach als Wunderwaffe? Was Coaching wirklich leisten kann – eine Grenzziehung.

Bernd Schmid

        


 
oaching ist ein schillernder Begriff, der in vielfältigen Varianten in Erscheinung tritt.1 Zunächst empfiehlt es sich, professionelles Coaching von kollegialer Beratung zu unterscheiden. Bei kollegialer Beratung erhebt der beratende Kollege keinen Anspruch darauf, eine professionelle Dienstleistung zu erbringen und erhält eben auch kein Honorar. Bei kollegialer Beratung stellt der Beratende meist im Realtausch seine Erfahrung, seine Fragen und Ansichten zur Verfügung und überlässt es den Kollegen, ob sie daraus etwas ziehen können. Dies ist ein wichtiges Element von Austausch, Kooperation und kollegialem Lernen in Organisationen2. Professionelle Coaches haben hier eher die Funktion, kollegiales Lernen im Rahmen von Organisationsprozessen oder zumindest arbeitsplatznah einzuführen und zu fördern.

Coaching als Profession
»Professionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf zentrale existenzielle Bezüge des Menschen ausgerichtet sind. Dies wird insbesondere deutlich an den althergebrachten Professionen, denen die klassischen Universitätsfakultäten zugeordnet sind:

(1) Priester, Seelsorger: Beziehung zu Gott (Theologische Fakultät),
(2) Arzt: Beziehung zu sich selbst mit Leib und Seele (Medizinische Fakultät),
(3) Jurist: Beziehung zu anderen Menschen (Juristische Fakultät),
(4) Lehrer: Beziehung zur Kultur (Philosophische Fakultät).

Diese Professionen verfügen jeweils über ein Wissenssystem, das einen zentralen Aspekt des menschlichen Lebens in der Gesellschaft betrifft und eine hohe Allgemeingültigkeit beansprucht.« 3

Aus der Perspektive der Professionsentwicklung kann anspruchsvoll formuliert werden, was unter dem Etikett Coaching geleistet und entwickelt werden kann und sollte: Nicht jeder Coaching-Begeisterte sollte dies leisten können, doch können Maßstäbe helfen, sich nicht in Selbstüberschätzung und Feigenblattfunktionen zu verirren. Weil wir guten Glaubens dazu neigen in Coaching eine Wunderwaffe zu sehen, erhält es eben auch leicht die Funktion eines Feigenblatts.

Wesentlich ist daher die Frage, was Coaching nicht oder nur begrenzt leisten kann:

1. Coaching ersetzt Führung nicht. Der Slogan »Führungskraft als Coach« ist irreführend. Gemeint ist damit ein Führungsstil, der sich für die Selbststeuerung der Geführten interessiert und nicht nur für Ergebnisse, der Verantwortung für Leistbarkeit der übertragenen Aufgaben übernimmt, für die Einbindung in Leistungsprozesse der Organisation und das Zusammenspiel mit anderen Leistungsträgern, für Wohlergehen der Geführten und deren Entwicklung. Hierzu kann eine Reflexion der gemeinsamen Gestaltung der Führungsbeziehung vonnöten sein. Gemeint ist also gute Führung.

2. Coaching-Beziehung beruht auf situativen Kontrakten. Sie erlischt ohne die Autorisierung durch den Coachee. Darin unterscheidet sich die Coachingbeziehung beispielsweise von einer Führungsbeziehung. Der Geführte kann seiner Führungskraft nicht die Autorisierung entziehen, es sei denn durch Verlassen seiner Organisationsfunktion. Coaching kann die Verantwortung der Gecoachten nicht mit übernehmen, sondern hat eine eigene komplementäre Verantwortung. Der Coach ist also weder für das Erreichen der Ziele des Coachees in der Pflicht, noch für Anliegen der Überweiser oder Vorgesetzten. Diese dürfen nicht der Illusion erliegen, ihre Beziehungsverantwortung an den Coach loswerden zu können. Hier hat der Coach aktive Aufklärungspflicht und kann Hilfestellung für die verantwortliche Gestaltung von Beziehungen auf der Kundenseite geben.

3. Coaching kann nur begrenzt Einzelnachhilfe für Führungskräfte sein. Nicht jeder kann eine übernommene Führungsfunktion ausfüllen, nicht jeder ist in jedem Rahmen geeignet. In vielen Organisationen ist das Problem der Fachkarrieren nicht befriedigend gelöst, weshalb nur Aufstiege in Führungsfunktionen opportun erscheinen, auch wenn diese nicht passen. Es ist fraglich, wann man durch Coaching mangelnde Eignung und Passung auszugleichen und wann zu verschleiern hilft und wem man damit einen Gefallen tut. Hier wäre oft die bessere Vorgehensweise, mit Partnern zu klären, welches Führungsverständnis vorliegt und ob der eingeschlagene Weg passt. Zu klären ist auch, welche Führungskultur in der Organisation vorherrschend ist und wie gewünschte Führungsbeziehungen und Stile dort realisierbar sind. Daher sollte man Passungen prüfen und abschätzen, ob Lösungsversuche Erfolg versprechen.

4. Coaching kann nur begrenzt Einzelnachhilfe für Leistungsträger sein. Vielmehr sollten im Coaching eher Kompetenzanforderungen und eventuell Lernbedarf geklärt werden. (Kompetenz in Organisationsfunktionen = Rollenkompetenz mal Kontextkompetenz mal Passung) Bevor der Coach zur längerfristigen Ego-Erweiterung in Sachen Leistung wird, sollte hier geklärt werden, was der Coachee für welche Herausforderung bis wann lernen muss, wo und von wem er das lernen kann und wie ein Monitoring relevanter Lernfortschritte aussehen kann. Hier ist zirkuläre Evaluation von »bedeutsamen Anderen« (Vorgesetzte, Personaler, Kollegen, Kunden, Lebenspartnern) angesagt sowie die Klärung von Berufslebensplan B, falls sich in vernünftigem Zeitraum keine entscheidenden Fortschritte zeigen.

5. Coaching kann nur begrenzt Gesundheit im Beruf bewahren. Unsere Gesellschaft und insbesondere die Leistungsträger leiden zunehmend unter gesundheitsschädigender Überlastung. Burnout-Coaching als Antwort anzubieten liegt nahe. Im Einzelfall kann Coaching ganzheitlicher als irgendwelche Fitness aufrüstenden Ansätze und berufsbezogener als Psychotherapie zu einer situativen Entlastung und vernünftigen Situationsanalyse beitragen. Doch sind gesundheitliche Entgleisungen meist Folgen verlorener Gleichgewichte und daraus folgenden längeren Fehlbelastungen. Diese sind oft bedingt durch die Organisationskultur. Viele Topmanager reichen unsinnige Leistungsverdichtungen soweit von oben nach unten durch bis sie auf klassische Schutzmechanismen wie z.B. durch Tarife geschützte Leistungsträger stoßen. Die Sandwich-Manager dazwischen finden sich in Überlastung wieder und werden gelegentlich als Lehmschicht verdächtig. Unbehagen und Verantwortung wieder in der Hierarchie nach oben zu verlagern, ist ungewohnt, gilt als uncool und ist für Einzelne sehr schwierig. Dabei wäre es höchste Zeit für ein präventives Leistungsverdichtungs-Monitoring. Wenn alle Reserven im Routinebetrieb verschlissen werden, bricht der Betrieb bei Krisen zusammen. Hier wären kollektive Organisationskulturinitiativen nötig. Doch wer soll diese organisieren? Auf jeden Fall sollte sich Coaching nicht unbedacht instrumentalisieren lassen.

6. Der Coach ist verantwortlich für Kompetenz und Urteilfähigkeit als Coach. Er ist verantwortlich diese zu erwerben bzw. sich ein Backup zu schaffen, das unterstützt, wo Lücken sind. Keiner kann alles, sollte aber wissen, was er kann und das klar unterscheiden können von dem, was es braucht. Sonst wird jedes Problem zum Nagel für den, der nur einen Hammer hat. Die unangemessene Aufblähung von Teilperspektiven und Teillösungen wird der ganzheitlichen Verantwortung der Kundensysteme nicht gerecht und richtet mehr Schaden an als Nutzen zu erzeugen. Um solche Effekte gering zu halten, braucht man eben eine qualifizierte Weiterbildung und laufende Supervision unter Fachleuten. Dadurch kommt der Coach über Modeströmungen professioneller Naivität hinaus und begibt sich in das Fahrwasser lebenslanger professioneller Auseinandersetzung.

7. Der Coach ist verantwortlich für einen Marktauftritt und Geschäftsbetrieb als »ehrbarer Kaufmann«. Ein Coach ist dafür verantwortlich, dass er Marktteilnehmer, Mitwirkende und Partner weder missbraucht noch ausbeutet. Hierzu gehört, dass Leistungsversprechen realistisch sind, dass drin ist, was drauf steht. Hierzu gehören nachvollziehbare Vertrags- und Preisgestaltungen und keine unsachgemäßen Bindungen. Antworten sind hier vielschichtig und Ermessenssache. Wollte man alles durch feste Vorgaben und Kontrolle regeln, würde das Coachingfeld erstarren und zu Pfründen für Funktionäre. Kultur kann nicht durch Kontrolle ersetzt werden. Doch sollte insofern Kontrolle ausgeübt werden, dass jeder Coach in eine dialog- und konfrontationsorientierte professionelle Gemeinschaft eingebunden sein sollte.

Aufbruch zu neuen Horizonten
Coaching als Vier-Augen-Beratung in beruflichen Fragen ist ein wichtiges und akzeptiertes Instrument im Organisationsbereich geworden. Insofern ist die Nachfrage nach Coaching auch eine sinnvolle Gelegenheit, Fragen von Leistung und Gesundheit zu stellen. Beim Versuch sinnvolle Antworten zu formulieren, sollten aber weitere Horizonte in Betracht gezogen werden. Hier stößt Coaching an Fragen der Organisationsentwicklung und damit der Organisationskulturentwicklung. Ob der einzelne Coach zu diesen Horizonten aufbrechen will oder nicht, muss ihm überlassen bleiben, doch ist wichtig, dass er notwendige Urteils- und Anschlusskompetenz erwirbt. Dann kann er in vernünftigem Verbund tätig werden, sich bei Bedarf mit anderen zu Netzwerken zusammenschließen. Dadurch können sich Coaches auch den virulenten Entwicklungen in Organisationen stellen, die die zunehmenden Coaching-Bedarfe hervorbringen.

Allerdings sind Antworten auf die dann auftauchenden Themen auch aus der Perspektive der Organisationsentwicklung nicht einfach. Nehmen wir nur Coaching-nahe Themen wie Burnout und Gesundheit, Diversity und interkulturelles Arbeiten oder demographischer Wandel und lebensphasengerechte Arbeitsgestaltung: Hier zeigt sich, dass es eben auch nicht einfach ist, jenseits der individuellen Betroffenheit im Einzelcoaching über Programme der Organisation an diese Themen heranzugehen. Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass das Thema Burnout nicht hinreichend mit Sportgruppen, Diätangeboten in der Kantine, Entspannungskursen etc. angegangen werden kann, sondern direkt mit Leistungs- und Führungskultur und deren längerfristigen Folgen zu tun hat. Jutta Rump hat aufgezeigt, dass keines der virulenten Themen Chancen hat, isoliert angemessen versorgt zu werden.4 So sind auch Fragen des lebensphasengerechten Arbeitens oder des produktiven Umgangs mit Diversity nicht von Fragen von Gesundheit und diese wiederum nicht von einem erfüllenden Berufsleben und der dafür zu findenden individuellen Gleichgewichte und Berufslebenswegen zu trennen.

Heißt das nun, dass wir entmutigt aufgeben sollten und uns wieder auf das kleine Format und was Organisationskultur betrifft auf eine Feigenblattfunktion zurückziehen sollten?

Ich meine: Nein! Doch sollten wir uns als Coaches nicht wunderbewaffnet wähnen. Denn die Aufgaben sind groß und wir haben keine Hebel der Macht, nur der Überzeugung durch Wertorientierung und Expertise. Wir sollten Coaching als ein komplexes Feld verstehen, in dem sich der einzelne Coach positionieren und vernetzen muss, will er verantwortlich handeln. Obwohl jeder Coach sich spezialisieren darf, ist Coaching im umfassenden Sinne eine integrative Expertise mit dem Fokus Mensch-Beruf und Mensch-Organisation. Hier schließt sich der Kreis zum Thema Führung und Zusammenarbeit, denn viele Akteure, die nicht unbedingt als Coaches firmieren wollen, erwerben Coaching-Kompetenzen. Sie bringen diese Coaching-Perspektiven und ihre Expertise in vielen Funktionen in Organisationen ein. Damit tragen die Coaching-Weiterbildungsanbieter, Coachingpools und Coachingverbände, sofern sie Coaching eben nicht auf Vier-Augen-Beratung begrenzen, dazu bei, dass Kompetenz und Programmatik für Systemlösungen, bei denen viele zusammen wirken müssen, bessere Chancen haben.  

 

1 vgl. Schmid, Bernd; Hipp, Joachim (2002): Varianten des Coachingbegriffs. In: Coaching-Magazin.
2 vgl. Schmid, Bernd; Veith, Thorsten; Weidner, Ingeborg (2010): Einführung in die kollegiale Beratung.
3 Schmidt-Lellek, Christoph J. (2010): Die Entwicklung von Coaching als Profession. In: Deutscher Bundesverband Coaching (Hrsg.): Coaching als Profession.
4 Rump, Jutta (2008): Demografie mitdenken: Trends für Gesellschaft und Bildung. Einstiegsvortrag auf dem 3. Forum Demografie mitdenken am 20.10.2008 in Wiesloch.

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/1012a/1012a.htm