Riskanter Veränderungsoptimismus – Moden und Mythen des organisatorischen Wandels
In schöner Regelmäßigkeit schaffen es neue Managementkonzepte auf die Agenda von Wissenschaftlern, Beratern und Praktikern, wo sie sich als Patentrezept für einen erfolgreichen organisationalen Wandel für eine gewisse Zeit festsetzen. Dabei avancierte zuletzt vor allem die »Lernende Organisation« zum Hoffnungsträger für die Steigerung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Wie schreitet die Umsetzung dieses Konzepts voran?

Markus G. Schwering und Frank Striewe

        


 
n den letzten Jahren ist eine geradezu sintflutartige Verbreitung von Management- und Organisationskonzepten zu verzeichnen, die als Patentrezepte zur Lösung betrieblicher Entwicklungsprobleme beitragen sollen. Die Diffusion von Total Quality Management, Organizational Culture, Lean Production oder Business Process Reengineering verläuft dabei immer nach einem ähnlichen Muster: während zu Beginn nur einige wagemutige Trendsetter (»pioneers«) mit neuen Managementkonzepten experimentieren, treten in der Folge immer mehr Nachahmer (»follow the leader«) auf den Plan. Der Zug der Lemminge, die sich Vorteile von einem der Mode konformen Verhalten versprechen, beginnt (»application«). Schließlich ist die Mode »out« und allenfalls einige späte Folger (»me-too«), die den Trend verschlafen haben, springen noch auf den Zug auf. Bei der Verbreitung der unterschiedlichen Konzepte ergeben sich erstaunliche Parallelen zu den Diffusionsverläufen neuer Produkte, und eine Analogie zu Modewellen drängt sich auf.

Die jeweils aktuellen Managementmoden setzen dabei bevorzugt an den Lücken, Versäumnissen und Problemen der Vorläuferkonzepte an. In den frühen 1990er Jahren standen die in erster Linie aufbau-organisatorisch geprägten Konzepte – allen voran das Lean-Management – im Vordergrund, die über den radikalen Abbau von Hierarchien »schlanke« Aufbaustrukturen propagierten. Als man feststellen musste, dass auch mit flachen Hierarchien eine Reihe von Dysfunktionalitäten verbunden sind und verstärkt Friktionen in der Steuerung von bereichs- und geschäftsübergreifenden Prozessen sichtbar wurden, begann in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die Konjunktur des Business Process Reengineering. Dabei begnügte man sich nicht mehr damit, einzelne Hierarchieebenen zu eliminieren und das Middle-Management auszudünnen. Vielmehr sollten die Unternehmen einer »Radikalkur« unterzogen werden, die nach Auffassung der Protagonisten schnell, grundlegend und kompromisslos auf einem »leeren Blatt Papier« erfolgen sollte, um so gleichzeitig auch die konventionellen Weisheiten und die tradierten Annahmen der Vergangenheit über Bord werfen zu können.

Welches Konzept auch gerade den Königsweg in die neue Wettbewerbslandschaft weisen soll, stets wird den Unternehmen die Argumentationsbasis dafür geliefert, mit viel Aufwand ihre gewachsenen Organisationsstrukturen und -abläufe aufzubrechen und sich des vermeintlich überflüssigen Personals zu entledigen. In der Zwischenzeit weht den Verfechtern der »Verschlankung« oder der »Radikalkur« allerdings ein scharfer Wind ins Gesicht. Denn so notwendig die Straffung der Hierarchien, Prozesse und Belegschaften war, die Rationalisierung und Optimierung des Bestehenden hat zur Folge, dass viele Unternehmen mit den Fettpolstern auch ihre Entwicklungspotenziale abbauten und anfällig für Fehler wurden. Die Abschöpfung der personellen Überhangpotenziale hat vielfach zum Abbau der letzten innovatorischen Freiräume geführt. Die eigene Orientierungsfähigkeit, sich mit Innovationen erfolgreich in neu entstehenden Wirtschaftsstrukturen zu positionieren, bleibt auf der Strecke.

Unter dem Druck von Downsizing, Outsourcing, Cost Cutting und weiteren, auf das Ausschöpfen von Rationalisierungsreserven bedachten Strategien, laufen Unternehmen immer mehr Gefahr, sich in einen Zustand höchster Effizienz, aber auch höchster innovatorischer Inkompetenz hineinzumanövrieren. Eine gesunde Schlankheitskur im Routinebereich droht in eine krankhafte Magersucht im Innovationsbereich (»Lean Innovation«) umzuschlagen. Wenn Fach- und Führungskräfte ihrer letzten innovatorischen Freiräume beraubt werden, fehlt die Zeit, über den Tellerrand zu schauen und Wege zu Neuem vorzubereiten. Die »Kultur der Rationalisierung« blockiert den Aufbruch zu Neuem und führt in letzter Konsequenz zu einer regelrechten Innovationslethargie. Marginale Verbesserungen und Rationalisierungsinnovationen in kleiner werdenden Nischen sind dann das höchste Maß an Entwicklung.

Lernfähige Organisationen – Hoffnungsträger für Innovationen
Durch die langfristig kontraproduktiven Effekte der oft als reine Personalabbauprogramme gefahrenen Managementmoden Lean Management oder Business Reengineering kamen folgerichtig Konzepte in Mode, mit denen der Aufbau und die Entwicklung individueller und organisationaler Kompetenzen forciert werden soll. Im Zuge dieser Überlegungen avancierte das Konzept der »Lernenden Organisation« zum Hoffnungsträger des Change Managements.

Wenngleich die Lernende Organisation in der (populär-)wissenschaftlichen Debatte den Höhepunkt mittlerweile überschritten hat, war lange eine beispiellose Veränderungseuphorie zu verzeichnen, die von einem außergewöhnlichen Diffusionserfolg des Konzepts begleitet wurde. Noch Ende der 1990er Jahre wurde der Lernenden Organisation von Experten aus Wissenschaft, Beratung und Unternehmenspraxis im Rahmen einer Befragung die größte Bedeutung unter den gängigen Managementkonzepten beigemessen. Auch gibt es mittlerweile einige Forschungsinstitute, die sich mit diesem Label schmücken, und die positiven Assoziationen, die offensichtlich mit Lernenden Organisationen verbunden werden, verleiten noch immer die unterschiedlichsten Einrichtungen dazu, der gewaltig anschwellenden Veränderungsrhetorik zu verfallen und sich schleunigst das Etikett der Lernenden Organisation oder des Lernenden Unternehmens anzuheften.

Mit dem Übergang zu einer Lernenden Organisation erwartet man ein sich innovatorisch erfolgreich veränderndes System. Doch bei näherer Betrachtung tut sich ein Widerspruch zwischen Programmatik und realem Handeln auf: Man konzentriert sich in der betrieblichen Umsetzung weiter auf rigide Cost-Cutting-Maßnahmen und weitreichende Downsizing-Programme. Damit gerät man in eine Schieflage zwischen weiterer Optimierung des Bestehenden und geforderten Bedingungen für innovative Ausbrüche.

Lernende Organisationen zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Prophezeiungen des Konzepts lassen – bei Umsetzung – auf eine sich gleichsam automatisch einstellende Innovationsfähigkeit hoffen. Ebenso wie die zahllosen Vorläufer knüpft das Konzept mit griffiger Sprache an die Wünsche und Probleme von Managern an, und das oft mit weitschweifenden Erfolgsgeschichten und (anglo-amerikanischer) »Bestsellerrhetorik«.

Das Lernen wird dabei als der zentrale Erfolgsfaktor von Unternehmensentwicklungsprozessen (wieder-)entdeckt. Nach Peter M. Senge – dem Nestor der Lernenden Organisation – gilt es, Organisationen zu schaffen, »in denen die Menschen kontinuierlich die Fähigkeit entfalten, ihre wahren Ziele zu verwirklichen, in denen neue Denkformen gefördert und gemeinsame Hoffnungen freigesetzt werden und in denen Menschen lernen, miteinander zu lernen.«

Dass die Umsetzung derartiger Ziele wünschenswert wäre, darüber dürfte schnell Konsens gefunden sein. Doch was zeichnet eine Lernende Organisation auf dem Weg in dieses Idyll aus? Folgt man Senge, dann müssen die Unternehmen alles über Bord werfen, was ehedem eine erfolgreiche Unternehmensführung auszeichnete. Zunächst seien dazu die »Aufgaben neu (zu) definieren ... (und) das alte Dogma der Planung, Organisation und Kontrolle aufzugeben.« Weiterhin lautet die Maßgabe, »die Handlungsspielräume »vor Ort« zunehmend (zu) erweitern und das Höchstmaß an Autorität und Macht nicht an der »Spitze« (zu konzentrieren), sondern so weit wie irgend möglich aus(zu)dehnen.« Am Ende soll allen Organisationsmitgliedern eine »Lokale Autonomie« zugestanden werden, die ihnen die Freiheit bietet, eigenständig zu handeln und eigene Ideen ausprobieren zu können. Um die Grundkrankheiten der Hierarchie zu überwinden, treten an ihre Stelle Mechanismen zur Selbstorganisation und zur Stärkung des gemeinschaftlichen Vertrauens. Indem der Mensch in den Mittelpunkt rückt, soll die Organisation als Kollektiv in die Lage versetzt werden, sich durch ständiges Lernen schnell an Veränderungen anpassen zu können. Widerstände gegenüber organisatorischen Veränderungen – so könnte der Eindruck entstehen – lösen sich dabei langfristig durch akzeptanzbildende Maßnahmen in Luft auf.

Zusammengenommen scheint die Bewältigung von Entwicklungsproblemen ein Problem des permanenten Wandels zu sein, das durch stufenweise Rückführung oder sogar radikalen Abbau organisatorischer Regelungen gelöst werden soll, an deren Stelle dann Selbstregulation und Partizipation treten. Nahezu alles, worauf die früheren Management- und Organisationskonzepte abstellten, erweist sich offenbar plötzlich als Hemmschuh für die Unternehmensentwicklung. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei Lernenden Organisationen um praktisch strukturlose Gebilde handelt, wie sie von dem Organisationstheoretiker Karl Weick als »chronically unfrozen system« beschrieben wurden.

Dass Praktiker unter diesen Umständen erhebliche Schwierigkeiten damit haben, ihren Betrieb in eine Lernende Organisation zu (ver-)wandeln, kann nicht weiter verwundern. Denn aus Unternehmenssicht ist die Problematik der Organisation von Entwicklungsprozessen wesentlich facettenreicher und anspruchsvoller, als es die Vertreter des Konzeptes Glauben machen wollen. Frustriert muss das Management erkennen, dass
:: sich viele Mitarbeiter aus Angst, einen individuellen Wettbewerbsvorteil preiszugeben, schlicht weigern, ihr Wissen und ihre Erfahrung mit Kollegen zu teilen,
:: es häufig an der Bereitschaft mangelt, sich für die Belange des Unternehmens mit der »ganzen Persönlichkeit einzubringen«,
:: eine vertrauensbasierte Unternehmenskultur nicht über Nacht aus dem Boden zu stampfen ist, sondern nur langsam wächst und sich dabei Pfadabhängigkeiten beugen muss,
:: allzu flexible Organisationsstrukturen zu einer Identitäts- und Bestandsbedrohung für das Unternehmen werden, da sie eine Vernachlässigung des Routinegeschäfts nach sich ziehen,
:: aus der (fremdverordneten) Selbstorganisation permanente kontroverse Aushandlungsprozesse bei den Mitarbeitern resultieren und
:: durch den Abbau traditioneller hierarchischer Strukturen ein Machtvakuum entsteht, das heftige Machtkämpfe und mikropolitisches Handeln provozieren kann.

Ohne die Grundannahmen des Konzeptes selbst in Frage zu stellen, führen viele Protagonisten die geringe praktische Relevanz auf Umsetzungsprobleme zurück: Sie monieren den mangelnden Konkretisierungsgrad oder unterstellen gar, dass die Aufrechterhaltung alter Denk- und Handlungsmuster bei den Mitarbeitern die Einführung blockiert. Die Befunde können aber auch als Indiz für überzogene Erwartungen an die Realisierbarkeit gewertet werden. Im Kern werden zwei Missverständnisse als Erklärung der begrenzten Umsetzung sichtbar:

:: Zum einen weht mit dem Wunsch einer kollektiven, einvernehmlichen Umsetzung von Veränderungen in Unternehmen ein Hauch von Sozialromantik durch die Betriebe, der auf einer Harmonieillusion gründet und von einem allzu optimistischen Menschenbild ausgeht.
:: Zum anderen wird die einseitige Konzentration auf lern- und innovationsfördernde Rahmenbedingungen, die über den radikalen Abbau von strukturellen Regelungen geschaffen werden sollen, dem Erfordernis nach stabilen Produktions- und Vermarktungsverhältnissen – über die letztlich Umsatz generiert wird – nicht gerecht.

An diesen beiden Missverständnissen muss man ansetzen, wenn das Konzept der Lernenden Organisation einen Beitrag für die Gestaltung zukunftsfähiger Organisationen liefern soll.

Innovation im Konsens ist Nonsens – den Wandel personifizieren
Den Gestaltungsvorschlägen von betrieblichen Veränderungsprozessen im Konzept der Lernenden Organisation liegt die Hoffnung zugrunde, dass sich alle Mitarbeiter mit Engagement und Begeisterung in die Unternehmensentwicklung einbringen. Von einer Harmonieillusion getragen, wird darauf gesetzt, dass die Belegschaft auf der Grundlage von Selbstregulation, gegenseitigem Vertrauen und breiter Akzeptanz die kontinuierliche Selbsttransformation der Unternehmen gewährleistet.

Die Vorstellung, sämtliche Mitarbeiter zum Aufbruch zu Neuem bewegen zu können, zeugt von einem zu schlichten Verständnis von Veränderungsprozessen und verdeckt, was der Innovationsforscher Erich Staudt auf die Formel »Innovationen im Konsens ist Nonsens« brachte. Erfahrungen aus der angewandten Innovationsforschung zeigen, dass es immer Einzelne oder wenige sind, die Innovationen voranbringen; allenfalls ein entwicklungsdynamischer Rand von 10-15 Prozent der Mitarbeiter ist bereit und in der Lage, Ausbrüche aus gewohnten Bahnen zu initiieren und gegen Widerstände durchzusetzen.

Selbst wenn der Wille zur Veränderung zumindest programmatisch bei vielen Fach- und Führungskräften vorhanden sein mag, so verflüchtigt er sich erfahrungsgemäß schlagartig, wenn Besitzstände oder gar die eigene Position zur Disposition stehen. Da Innovationen immer eine Veränderung des Status Quo implizieren, ist in Veränderungsprozessen stets mit Widerständen zu rechnen. Opponenten treten auf den Plan, die sich gewieft den Neuerungen widersetzen. Das Beharrungsmoment von eingespielten Interessenkonstellationen wird unterschätzt und führt in der Folge dazu, dass aussichtsreiche Vorschläge zerredet werden. Neuerungsprozesse – insbesondere bei (Sprung-)Innovationen mit hohem Neuigkeitsgrad – sind stets durch massive Kämpfe, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien geprägt, da sie auf nahezu allen Ebenen einer Organisation Besitzstände gefährden. Insofern kommt es einer Illusion gleich, zu hoffen, dass sich radikale Innovationen über alle Mitglieder einer Organisation ansteuern ließen.

Den meisten Innovatoren, die den hürdenreichen Weg über die zahlreichen Barrieren bewältigt haben, ist klar, dass Ausbrüche aus gewohnten Bahnen nach anderen Mustern verlaufen. Innovationen sind in der Regel nicht das Ergebnis einer gemeinsamen geteilten Vision, sondern entstehen vielmehr aus Zufällen oder aus Versuchen und Irrtümern sowie aus Lernprozessen innovativer Kräfte, die oft ohne das Wissen des Top-Managements, zum Teil sogar gegen bestehende Regeln handeln, sich mit Fachkräften aus anderen Abteilungen verbünden, im Untergrund arbeiten und erst an die Oberfläche kommen, wenn sie vom Erfolg ihrer Neuerung überzeugt sind.

Einzelbefunde aus sehr heterogenen Bereichen dokumentieren die zentrale Bedeutung dieser spezifischen Personenkonstellationen für innovatives Handeln. Quintessenz von Beispielen wie »Externe Ventures«, »Promotorengespanne«, »Change masters«, »U-Boote«, »Bunte Hunde« und »Bootlegging« ist, dass die besten Konzepte und Lösungen aus Projekten stammen, die – bevor sie ihre volle Blüte entfalten – zunächst im Verborgenen gedeihen. Solche Innovationseinheiten sind Ausdruck eines lebendigen Immunsystems gegen bürokratische Verkrustungen, innovationsfeindliche Hierarchien und vorgeblich unpolitische Entscheidungsprozesse.

Solange sich die heute vorherrschenden Harmonieillusionen halten und Innovationen in konsensualen Prozeduren versucht werden, kommen Veränderungsprozesse nicht richtig voran. Der Aufbruch zu Neuem erfordert eine neue Art der Führung, die den innovativen Kräften und der Entwicklung und Entfaltung dieser innovativen Kräfte eine Schlüsselrolle einräumt. Es ist eine Art Partisanenstrategie, die den Aufbruch zu Neuem möglich macht. Die – rar gesäten – Innovatoren brauchen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihre Potenziale zur Entfaltung bringen können:

:: Zunächst sind Handlungsfreiräume zu sichern, indem innovative Kräfte von Routinearbeiten entlastet, aus den verkrusteten alten Netzwerken entkoppelt, Ressourcen ohne die kontraproduktiven Kontrollschleifen der eingefahrenen Regulierungssysteme bereitgestellt und Projektschritte durch die Unternehmensleitung abgesichert werden.
:: Handlungsfreiräume allein stellen aber nicht sicher, dass etwas passiert. Ohne daran gekoppelte Erwartungen geraten sie schnell zu »Spielwiesen«. Neben die gewährten Freiräume müssen daher noch Handlungsanreize durch die Art der Aufgabenstellung selbst, durch mit dem Projekt verbundene Karrierechancen oder durch die Aussicht auf herausfordernde Folgeprojekte treten.

So aufgestellt meiden Innovatoren runde Tische, an denen der Konsens für Veränderungen gesucht wird, Entscheidungen für echte Innovationen aber nicht zustande kommen. Sie überwinden Hindernisse und gehen Risiken ein, die in Gremien gar nicht diskutierbar sind. Auf sich selbst gestellt, haben sie den Unternehmergeist, der in gut kontrollierten Organisationen nicht mehr aufkommen kann.

Ist man mit seinen Ansprüchen also etwas bescheidener und erkennt man an, dass es immer Einzelne oder Minderheiten sind, die Neuentwicklungen wagen, Risiken eingehen und Veränderungen suchen, muss man sich viel intensiver damit beschäftigen, welche Mitarbeiter derartige Ausbrüche aus gewohnten Bahnen überhaupt personifizieren können und wie geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden können. Erst durch die Personifizierung des Wandels im Verbund mit neuen organisatorischen Freiräumen und Handlungsanreizen kann es gelingen, das Potenzial dezentraler Innovationskräfte zu entfalten, ausgetretene Pfade zu verlassen und die Begrenzungen des kollektivistischen Ideals einer Lernenden Organisation zu überwinden.

Vernachlässigung von Routinen führt in die Sackgasse – operative Exzellenz fördern
Bei aller Veränderungseuphorie sollten die Gefahren eines allzu ausufernden Innovierens für den Bestand des Unternehmens nicht aus dem Blick verloren werden. Nur mit leistungsfähigen Routineprozessen lässt sich das Geld verdienen, das an anderer Stelle für Innovationen erforderlich ist. Werden die Routinen vernachlässigt, droht auch den Innovatoren ein schnelles Ende.

Bei einem Blick auf die gängigen Entwürfe zu Lernenden Organisationen drängt sich aber der Eindruck auf, dass sich Unternehmen permanent und ausschließlich mit ihrer Veränderungsfähigkeit zu befassen hätten und dafür eine radikale Änderung ihres organisatorischen Erscheinungsbildes notwendig wäre. Dazu sei auf die etablierten Strukturen und Prozesse, die die Aufgabenverteilung auf relativ eindeutige und konstante Weise klären und insofern zur Koordination der einzelnen Mitarbeiter und der organisatorischen Einheiten beitragen, nun weitestgehend zu verzichten.

So wichtig und richtig die Kritik an überkommenen, innovationshemmenden Führungs- und Lernkulturen ist, so wenig kann die Vorstellung einer lernenden als einer nahezu strukturlosen Organisation überzeugen. Es wird unterschlagen, dass eine kompromisslose Dezentralisierung, allzu flexible Strukturen etc. die Effizienz im Routinebereich tendenziell gefährden. Dezent wird darüber hinweggesehen, dass Unternehmen ohne Routinen und effiziente Standardprozeduren ihre Kontinuität, Identität und Sicherheit in Frage stellen würden. Organisationen können und dürfen sich nicht ausschließlich mit der Suche und Realisierung von Veränderungen befassen. Eine Lernende Organisation, in der alles fließt und keine Orientierung mehr möglich ist, kehrt in ihrer Extremform als »cronically unfrozen system« ziemlich genau das um, was Unternehmen brauchen, um effizient arbeiten zu können. Auch Lernende Organisationen sind auf stabilisierende Routinen und operative Exzellenz – die ebenfalls aus z.T. langjährigen Lernprozessen hervorgegangen sind – angewiesen.

Welche Folgen die Überflexibilisierung in Organisationen haben kann, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel von forschungs- und entwicklungslastigen Gründungsunternehmen der New Economy ablesen. In diesen Organisationen waren zwar die postulierten Charakteristika von Lernenden Organisationen wie ein geringer Formalisierungsgrad, ein hoher Improvisationscharakter sowie Partizipation, Selbstorganisation und Kommunikation im Wesentlichen erfüllt; beim Übergang in stabilisierende Routinen zur Vermarktung der Produkte sind diese Unternehmen aber reihenweise in massive Schwierigkeiten geraten. In ihrem Bemühen, eine organisatorische Anpassung an das Unternehmenswachstum vorzunehmen, mussten sie schließlich erkennen, wie wichtig geordnete Strukturen und Prozesse für das schlichte Überleben sind.

Die Organisationsgestaltungsprobleme bewegen sich daher in der Praxis immer in einem Spannungsfeld zwischen der Förderung von Innovationen sowie der Entwicklung und Sicherung von Routinen. Während junge Unternehmen Standardprozeduren entwickeln müssen, ohne ihre Kreativität und Innovativität einzubüßen, sind reife Unternehmen gefordert, die Entwicklungsdynamik früherer Tage zurückzugewinnen, ohne dabei jedoch bewährte Routinen zu demontieren und ihre operative Exzellenz zu verlieren.

Es ist daher wenig sinnvoll, unreflektiert dem Leitbild der Lernenden Organisation zu folgen und das gesamte Unternehmen für Innovationen instrumentalisieren oder umfunktionalisieren zu wollen. Die latente Forderung einer Maximierung der Flexibilität führt auf den Irrweg. Sie ist aus individueller Sicht kaum zumutbar und aus betrieblicher Sicht wenig durchdacht. In der Konsequenz heißt das, auf die Veränderung des gesamten Systems und den Versuch alle Mitarbeiter gegen ihren Willen und ihre Talente für den Aufbruch zu Neuem zu bewegen, zu verzichten. Vielmehr spricht einiges dafür, Veränderungen am Rande gewachsener Strukturen zu forcieren und damit gleichzeitig Eliten für Routinen zu fördern.

Die Zukunft der Lernenden Organisation – Balance von Innovation und Routine
Mit zunehmendem Innovationsdruck hat ein Wandel in den diskutierten Managementkonzepten stattgefunden. Waren lange Zeit Konzepte auf der Agenda, die die Optimierung von Strukturen und Prozessen im Fokus hatten, wird nunmehr die Forderung nach Flexibilität, Dezentralisierung, Selbstorganisation etc. erhoben. Die Lernende Organisation steht den Vorgängerkonzepten damit diametral gegenüber und erhebt den Anspruch, Unternehmen zu wandlungsfähigen Einheiten zu machen. Programmatisch adaptieren Unternehmen gerne dieses Label, halten in praxi jedoch mit Cost-Cutting-Programmen an den Handlungsmaximen der Vorgängerkonzepte fest. Innovationen kommen so kaum voran und als Lernende Organisationen apostrophierte Unternehmen rationalisieren und schrumpfen weiter.

Nun wäre es falsch, das Anliegen Lernender Organisationen zu verwerfen und mit dem Fortführen von Rationalisierung und Bestandsoptimierung die Entwicklungsfähigkeit von Unternehmen weiter zu gefährden. Vielmehr geht es darum, in den Annahmen des Konzepts realistischer zu werden, um die betriebliche Umsetzbarkeit jenseits bestehender Lippenbekenntnisse zu ermöglichen. Das setzt zunächst die Einsicht voraus, dass alle Versuche der generellen Sensibilisierung von Gesamtorganisationen für die Notwendigkeit des organisatorischen Wandels ihr Ziel bereits im Ansatz verfehlen müssen. Innovationen sind in der Regel nicht das Ergebnis kollektiven Wandels, sondern entstehen vielmehr aus Versuchen und Irrtümern sowie aus den Lernprozessen einzelner, dezentraler Innovationskräfte.

Insofern setzt die Förderung von Innovationen immer die Personifizierung des Wandels voraus. Für diesen entwicklungsdynamischen Rand – und nicht für alle Mitarbeiter, wie im Konzept der Lernenden Organisation suggeriert – sind spezifische Rahmenbedingungen zu schaffen. Damit läuft man dann auch nicht Gefahr, über den Versuch der breiten Institutionalisierung von Innovationssprüngen die Gesamtorganisation zu destabilisieren. Denn bei allem Konsens über die Notwendigkeit zur Innovation dürfen etablierte und funktionierende Routinen nicht vernachlässigt und unreflektiert geopfert werden. Voraussetzung dafür, dass sich Innovationseinheiten überhaupt entwickeln können, sind intakte Routinen. Hier wird das Geld verdient, das die Innovatoren benötigen.

Unternehmen sind daher gut beraten, nicht unbedacht dem Leitbild der Lernenden Organisation zu folgen und in einen riskanten Veränderungsoptimismus zu verfallen. Wer Innovationen fördern will, ohne dabei die operative Exzellenz zu gefährden, muss dafür jeweils spezifische organisatorische Voraussetzungen schaffen. Die für die Unternehmensentwicklung entscheidende Balance von Innovation und Routine erfordert mithin eine »Parallelorganisation«, die beide Kernaktivitäten gezielt unterstützt. Nur so verstanden macht es aus betrieblicher Perspektive Sinn, sich mit dem Konzept auseinander zu setzen.  

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0609a/0609a.htm