Management des Unvorhersehbaren
Der Glaube, die Zukunft kontrollieren und steuern zu können, ist längst ein Mythos. Organisationen sind heute verstärkt mit Mehrdeutigkeit, Zweifel und Unsicherheit konfrontiert, was ihr Handeln entscheidend erschwert. Die Fähigkeit, mit diesen Entwicklungen umgehen zu können, entscheidet über ihre Lebens- und Zukunftsfähigkeit. Aber wie können sich Organisationen diese Fähigkeit aneignen?

Kamuran Sezer

        


 
ntwicklungen wie die Globalisierung, der technologische Forschritt, der in zunehmend kürzeren Innovationsabständen fortschreitet, Verlagerung geopolitischer Schwerpunkte in der Welt, die aufkommende Wissensgesellschaft, in der das Wissen den vierten Produktionsfaktor darstellt, Migrationsflüsse, der aufkeimende Terrorismus, das Verhältnis zwischen Kulturen und Religionen, Internationalisierung von Gesellschaften und sonstige sozio-ökonomische Entwicklungen machen unsere Welt komplizierter, dynamischer, unberechenbarer und unvorhersehbarer.

In a world that is constantly changing,
there is no one subject or set of subjects that will serve you for the foreseeable future,
let alone for the rest of your life.
The most important skill to acquire now is learning how to learn.
John Naisbitt, Zukunftsforscher

Neue Paradigmen: Mehrdeutigkeit, Zweifel und Unsicherheit
Nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch Organisationen, die für die Steuerung moderner Gesellschaften längst eine zentrale Rolle spielen, wie Unternehmen, Verbände, karitative Einrichtungen, öffentliche Institutionen oder Parteien, sind hiervon betroffen. Die Fähigkeit einer Organisation, diese neuen Entwicklungen zu erkennen, die Auswirkungen auf die eigene Organisation abzuwägen und diesen rechtzeitig zu begegnen, entscheidet über ihre Leistungs- und Zukunftsfähigkeit.

In der Februar-Ausgabe (2006) des Harvard Businessmanager1 wurden die »10 besten Ideen« vorgestellt, die das Management beeinflussen werden. Unter diesen nehmen die Beherrschung der Komplexität und der Umgang mit Zweifel und Unsicherheit Platz eins ein. So heißt es:

»In diesem Jahrhundert muss sich die Managementdisziplin zwei dickere Brocken vornehmen: Unsicherheit und Zweifel. [...]
Unsicherheiten und Zweifel verschieben die Grenzen des Managements, wie wir es kennen. Der Sinn und Zweck einer Organisation und ihrer Führung bestand lange darin, Kontrolle und Vorhersehbarkeit zu steigern. Mit Unsicherheit umzugehen erfordert die Fähigkeit, sich mit Mehrdeutigkeiten zu arrangieren und trotz unsicherer Rahmenbedingungen gute Entscheidungen zu treffen.«

Die Beherrschung dieser neuen Paradigmen bildet den Gegenstand dieses Artikels. Es wird im Besonderen der Frage nachgegangen, wie Organisationen Veränderungen in ihrer Umwelt wahrnehmen, hieraus zukunftsbezogenes Orientierungswissen ableiten und schließlich im Sinne ihres Zwecks verwerten können.

Hierbei wird vornehmlich die organisationssoziologische Perspektive eingenommen. Das heißt, dass die Vorgänge der Umweltbeobachtung und ihre Verarbeitung in der Organisation unter den Gesichtspunkten Personal, Technik, Strukturen, Wissen und deren Vernetzung innerhalb der Organisation betrachtet werden. Ziel des Artikels ist es, diese Vorgänge zu beschreiben und in ein ganzheitliches Modell zu überführen, durch das der Handlungsrahmen für Organisationen vor dem Hintergrund der neuen Paradigmen abgesteckt werden soll.

Das Modell baut dabei auf die folgende These auf:
Zwischen Organizational Foresight und organisationalem Lernen existieren eine Schnittmenge und somit auch Synergieeffekte in der Bewältigung der Umweltkomplexität und deren zweckgerichteter Verarbeitung in der Organisation, die bislang ungenutzt bleiben.

Organizational Foresight (OF) und organisationales Lernen (OL) bilden die Kern-Bestandteile des Modells. OF, die in ihrem Synonym Corporate Foresight in Deutschland verstärkt Beachtung findet, ist ein Ansatz, mit dem zukunftsbezogenes Wissen generiert wird. Einige Autoren führen an, dass sie in einer Organisation das Lernen beschleunigen kann. Sie erklären nicht, wie durch OF angestoßene Lernprozesse aussehen und gestaltet werden können.

OL hingegen setzt sich mit der Lernfähigkeit einer Organisation auseinander und wie diese nachhaltig gewährleistet werden kann. Einige Autoren wiederum führen an, dass es Organisationen durch die Realisierung dieser Fähigkeit gelingt, Lernimpulse aus der Umwelt aufzunehmen und diese in der Organisation zu verarbeiten. Sie vernachlässigen aber den Aspekt, wie eine lernende Organisation Wissen über die Umwelt generieren kann. Durch die sinnvolle Verknüpfung und Integration der beiden Ansätze können ihre Defizite kompensiert werden.

Es gilt, die Zeitspanne zu finden und zu nutzen, welche zwischen dem Erkennen eines Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft und seiner vollen Auswirkung liegt.
Die Zukunft vorhersehen heißt nichts anderes als: Die Zukunft gestalten.
Peter F. Drucker, Managementtheoretiker und Historiker

Von der Umwelt in die Organisation
Die Wahrnehmung von Umweltveränderungen bis zu deren Verarbeitung in der Organisation durchläuft drei Ebenen.

:: Die erste Ebene ist die Umwelt einer Organisation, die sich in eine Aufgabenumwelt und eine globale Umwelt unterteilt. Während die Aufgabenumwelt Einflussfaktoren umfasst, die von der Organisation zur Erfüllung ihres Zwecks unmittelbar bewältigt werden müssen, beinhaltet die globale Umwelt hingegen Einflussfaktoren, die mittelbar auf die Organisation einwirken. Dadurch wird der Sachverhalt ausgedrückt, dass die Umwelt auf eine Organisation direkt oder indirekt einwirkt. Die Abbildung unten umfasst die bisherigen Ausführungen und nennt des Weiteren die Einflussfaktoren, aus der die Umwelt zusammengesetzt ist. Ihre Grenzen sind fließend und eher durchlässig. Eine solche Unterteilung erlaubt aber handlungsbezogen die Umwelt zu beobachten und relevante Einflussfaktoren zu identifizieren.

Globale und aufgabenspezifische Umwelt einer Organisation

:: Die zweite Ebene der Betrachtung ist die institutionalisierte Umweltbeobachtung. Insbesondere Großunternehmen verfügen über Einrichtungen, um Veränderungen in der Umwelt zu verfolgen und in Form von (qualitativen oder quantitativen) Reports zu explizieren. Diese reichen von der klassischen Marktforschung, Business bzw. Competitive Intelligence über Forschung und Entwicklung, Competence Center bis zum Innovationsmanagement. Durch Verdichtung der Umfeldänderungen wird explizites Wissen geschaffen, das in der Organisation kommuniziert und verwertet werden kann.

:: In der dritten Ebene geht es um die Verarbeitung von Wissen in der Organisation. Dabei muss betont werden, dass dieser Prozess nicht nur durch die einzelnen Organisationsmitglieder getragen wird, sondern dass die Strukturen, Technologien, Entscheidungsmechanismen und Organisationskultur, die das Verhalten der Menschen steuern und beeinflussen, berücksichtigt werden müssen. Es hängt im hohen Maße von diesen Bestandteilen einer Organisation ab, inwieweit sie das generierte Wissen in gewünschter Weise verarbeitet, d.h. die sinnvolle auf den Organisationszweck ausgerichtete Verknüpfung dieser Bestandteile entscheidet über die erfolgreiche Anwendung des generierten Wissens in der Organisation.

Von der Umweltbeobachtung bis zur Verarbeitung von Wissen in der Organisation

Von der Zunahme der Umweltkomplexität zum proaktiven Lernen
Die immer dynamischer und komplexer werdende Umwelt führt für Organisationen zu einer Verkürzung der Produktlebenszyklen, einer Beschleunigung der Basisinnovationen und bewirkt eine stärkere Ausdifferenzierung und Individualisierung in der Gesellschaft. Diese Entwicklungen werden zudem durch die Globalisierung und die Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologien verstärkt. Die Berechenbarkeit und Zähmung der Zukunft als Relikt des Fortschrittsglaubens aus den vergangenen Tagen der Industrialisierung werden ersetzt durch Unsicherheit und Zweifel.

Ferner wird vermehrt die Ansicht vertreten, dass Organisationen angesichts der vielschichtigen Einflussfaktoren idealiter bestrebt sind, Umweltänderungen nicht adaptiv, d.h. durch Anpassung auf eine Veränderung hin, sondern proaktiv, also die Initiative ergreifend begegnen möchten.

Die beiden Beobachtungen

:: »Die gegenwärtige Umwelt ist komplizierter und unberechenbarer als sie es in der Vergangenheit war.«
:: »Organisationen möchten Umweltveränderungen vor ihrem Eintritt zeitig erkennen.«

unterstreichen die Relevanz von OF für die Umweltbeobachtung und Beherrschung der Umweltkomplexität.

Umweltwahrnehmung und strategische Langfristplanung mit OF
OF ist Gegenstand der Zukunftsforschung und bedeutet im Deutschen schlicht (organisationale) Vorausschau. Damit können Organisationen strategische Entscheidungen vorbereiten bzw. ihre strategische Langfristplanung entwerfen. Außerdem werden durch OF die Umwelteinflüsse systematisch erfasst und strukturiert, so dass hieraus die Handlungsfähigkeit einer Organisation ermöglicht wird.

Damit werden nicht nur ganz spezifische, die eigene Organisation betreffende Trends und Zukunftsentwicklungen berücksichtigt, sondern im Idealfall alle Bereiche einer Gesellschaft. In Anlehnung an die obige Definition einer Umwelt umfasst es demnach alle Einflussfaktoren sowohl auf der aufgabenspezifischen als auch auf der globalen Ebene. Außerdem werden die Wechselbeziehungen zwischen den Einflussfaktoren offen gelegt und in der Planung berücksichtigt. Schließlich werden die möglichen Konsequenzen auf die eigene Organisation erörtert.

Bei OF kann die Betrachtung der Umwelt kurz-, mittel- und langfristig erfolgen. Je länger der Zeitraum allerdings, der betrachtet wird, umso mehr nimmt die Validität der Informationen über die Umweltänderungen und zukünftigen Entwicklungen ab. Das Eintreten von Umweltveränderungen und deren Einwirkungen auf die Organisation beruht daher auf Wahrscheinlichkeiten. Für die Strategieentwicklung bedeutet dies, dass die Planung auf stochastischen Daten aufbaut.

Demnach ist Zukunft nicht ein eindeutig abgrenzbarer, real existierender Zustand, der irgendwann einmal tatsächlich erreicht sein wird. Rainer König, Mitarbeiter der Telekomtochter T-Nova Deutsche Telekom Innovationsgesellschaft mbH, hat diesen Aspekt in seinem Aufsatz2 wie folgt erläutert:

»Es gibt kein exaktes Zukunftswissen, sondern nur eine Vorwegnahme möglicher Entwicklungen unter bestimmten Annahmen, Hypothesen oder Vermutungen. Dieses ›Denken auf Vorrat‹ (Eckhardt Minx) ist deshalb eine wesentliche Leitlinie unternehmerischer Zukunftsforschung. Ebenso wichtige Prinzipien sind ein ›Denken in Alternativen‹, d.h. nicht nur das Variieren einer Fragestellung entlang einer Skala, sondern das ganzheitliche Abstecken eines Möglichkeitenraums, sowie ein ›Denken in Konsequenzen‹, d.h. die Identifikation möglicher Auswirkungen der Entscheidungsoptionen.«

Demzufolge erarbeitet man mit OF lediglich ein Spektrum an alternierenden Zukünften.

Für die Anwendung des OF gibt es keine eindeutig abgrenzbare Abfolge. Die Autoren präsentieren hierzu unterschiedliche Herangehensweisen, die aber auf einen Grundablauf aufbauen: Informationssammlung – Informationsbewertung – Informationsverdichtung. Entscheidender Bestandteil in diesem Ablauf ist aber die Einbindung von relevanten Personengruppen (Stakeholdern).

Dies können organisationsinterne Personen sein:

:: Organisationsführung (z.B. Vorstand oder Geschäftsführung)
:: (ausgewählte) Führungskräfte der mittleren Ebene
:: (ausgewählte) Abteilungen samt ihren Leitern und allen Mitarbeitern
:: u.a.

Wichtig sind aber auch externe Personengruppen:

:: Interessenverbände, Gewerkschaften
:: Bürger-, Naturschutz- oder sonstige Initiativen
:: Wissenschaftler
:: Kunden
:: Lieferanten
:: Bürger ⁄ Anwohner
:: Lokalverwaltung
:: Politik
:: u.a.

Je nach Problemstellung bzw. Erkenntnisinteresse können die relevanten Personengruppen ausgewählt und in den OF-Prozess eingebunden werden. Eine sorgfältige und sinnvolle Auswahl der Teilnehmer ist aber sehr wichtig; diese müssen in der Lage sein, wichtige Beiträge für den Foresight-Prozess einzubringen. Darüber hinaus müssen sinnvolle Entscheidungsmechanismen installiert sein. Ein »offenes« Dialogforum, in dem jeder teilnehmen und alles sagen kann, was er will, ist kontraproduktiv. Die Diskussionsbeiträge müssen erfasst, strukturiert, diskutiert und bewertet werden, um anschließend Erkenntnisse zu formulieren, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können. Solche Workshops oder Zukunftskonferenzen sollten idealerweise von geübten Moderatoren und Trainern konzipiert und geleitet werden.

Im OF-Prozess kann auf ein Arsenal an quantitativen und qualitativen Prognosemethoden aus der Zukunftsforschung zurückgegriffen werden. Je nach Erkenntnisinteresse und Zieldefinition können spezifische Methoden angewendet werden. Dabei wird es sich oft um einen Methodenmix handeln.3

Es kann resümiert werden, dass OF eine Methode darstellt, mit der langfristige Entwicklungen und Alternativen erkannt, gebildet und verdichtet werden können. Darüber hinaus werden gegenwärtige und zukünftige Umweltbedingungen ermittelt und strukturiert. Hierbei werden mehrere Zukünfte entworfen, denen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können. Das Ergebnis des OF-Prozesses stellt das Zukunftswissen dar, das in expliziter Form vorliegt. Auf diese Weise kann es in der Organisation kommuniziert und weiterverwertet werden.

Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit von Organisationen mit OL
Das Ziel des OL ist es, die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit einer Organisation nachhaltig zu ermöglichen. Manche Autoren setzen OL mit dem Lernen von Individuen in der Organisation gleich. Diese Betrachtungsweise ist zwar richtig, jedoch nicht ausreichend, da eine Organisation mehr als eine Ansammlung von Menschen ist. Sie besteht aus Prozessen, Kommunikationsstrukturen, Technologien, Entscheidungsmechanismen usw., die wiederum das Verhalten und Lernen der Organisationsmitglieder beeinflussen. Hieraus ergeben sich die Dimensionen des OL: Personal, Struktur und Technik. Um die Lernfähigkeit einer Organisation herzustellen, müssen diese Dimensionen miteinander verknüpft und auf den Organisationszweck hin ausgerichtet werden.

Eine Organisation hat dann gelernt, wenn ihre Wissensbasis verändert wurde. Die Wissensbasis stellt das Speichermedium oder das Gedächtnis der Organisation dar, in dem alles relevante und irrelevante Wissen einer Organisation enthalten ist, das wiederum mittelbar oder unmittelbar abgerufen werden kann. Das Wissen einer Organisation kann in deren

:: Strukturen (Arbeitsabläufe, Dokumente, Kommunikationskanäle, Berichtswesen, Anreizsysteme usw.)
:: Kultur oder Vision (Weltsichten, Ideologien, Normen und Werte, cognitive maps, Einstellungen usw.)
:: Technologien (Online-Medien, Software, Hardware, Kommunikationstechnologien usw.) und
:: in den Köpfen der Mitarbeiter

gespeichert aber auch abgerufen werden.

OL ist ein Ansatz, der sich (bislang) durch seinen visionären Charakter auszeichnet. Seine operative Ausgestaltung ist daher unklar. Nichtsdestotrotz kann auch hier auf ein Arsenal an Methoden zurückgegriffen werden, die je nach Problemstellung oder Zielfestlegung herangezogen werden können. Zur besseren Übersicht werden die Methoden entlang der Dimensionen des OL in drei Gruppen aufgeteilt, die fließend ineinander greifen:

Technologie:
Den Schwerpunkt bildet die Speicherung und Verwaltung von Daten, Informationen und Wissen in Datenbanken oder anderen technischen Systemen innerhalb der Organisation. Hierbei wird das Wissen in Bildern, Grafiken, Schrift etc. kodifiziert und in diesen technischen Systemen verankert, so dass es von den Organisationsmitgliedern abgerufen und genutzt werden kann. Internet-, Intranet und Extranetlösungen bilden hierzu die Plattform, auf der die technischen Systeme eingerichtet und für möglichst viele Mitglieder zugänglich gemacht werden. Diese können

:: Datenbanken zur Unterstützung von Recherchearbeiten
:: Yellow Pages zum Finden von Experten auf ausgewählten Themengebieten
:: Online-Tools, durch die virtuelle Projekte gesteuert werden können
:: Kommunikationsforen
:: usw.

umfassen.

Diese Instrumente werden oft im Rahmen von Wissensmanagement-Systemen angewendet, wobei betont wird, dass Wissensmanagement auch die Ebene des Personals umfasst. Es setzt sich daher nicht nur mit der Konzeption und Installation der technischen Systeme, sondern auch mit der Weiterbildung und Vernetzung der Individuen in der Organisation auseinander.

Team- und Mitarbeiterentwicklung:
Die Organisationsmitglieder sind die Träger des Lernvorganges. Deshalb müssen diese in das OL eingebunden werden. Hierbei geht es um die Vermittlung von Fachwissen, sozialen Kompetenzen und Techniken zur Lösung von Problemen.

Methoden zur Mitarbeiter- und Teamentwicklung4

Strukturen:
Die wichtigste Eigenschaft einer lernenden Organisation ist ihre Fähigkeit zur Rekonfiguration, d.h. die Umgestaltung der Strukturen entlang neuer Anforderungen. Die Methoden, die hierin subsumiert werden können, sind zugleich in der Organisationsentwicklung und im Veränderungsmanagement angesiedelt. Die Methoden sind daher vielfältig.

Es kann zusammengefasst werden, dass eine Organisation durch OL Veränderungsimpulse aufgreifen und im Sinne des Organisationszwecks verwerten kann. Die Impulse werden dabei in den drei Dimensionen des OL verarbeitet, verdichtet und in der organisationalen Wissensbasis implementiert. Dabei wird entweder die Organisation in ihrer Gesamtheit (Strukturen, Personal, Technik) oder in ihren Output-Leistungen verändert. Jede Dimension umfasst ein riesiges Spektrum an Methoden, die der Fragestellung entsprechend ausgewählt werden können.

Integriertes Modell der Generierung von Wissen
Die bisherigen Ausführungen zeigen auf, dass OF und OL sinnvoll zusammengefasst werden können. Vor allem ergänzen sich die beiden Ansätze hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen. OF eignet sich für die Beobachtung, Strukturierung und Verdichtung der Umwelteinflüsse zu explizitem Wissen. Allerdings lässt es offen, wie die gewonnenen Erkenntnisse in der Organisation weiterverwertet werden können. OL hingegen beschreibt, wie eine Organisation mit Veränderungsimpulsen aus der Umwelt (oder aus der Organisation selbst) umgehen kann. Es erklärt aber nicht, wie die Organisation ihre Umwelt beobachten und hieraus Erkenntnisse gewinnen kann, um proaktives Lernen zu ermöglichen. An dieser Nahtstelle können die beiden Ansätze sinnvoll verknüpft und zu einem Modell zusammengeschlossen werden.

OF⁄L-Modell

Strategie-Entwicklung
Im Kern weist dieses Modell Ähnlichkeiten mit der betrieblichen Planung auf, die in eine strategische und operative Planung unterteilt wird. Unter strategischer Planung versteht man die Erarbeitung einer grundsätzlichen Entwicklungsrichtung des Unternehmens auf der Grundlage einer Analyse externer Einflüsse und der internen Situation. Sie stellt den Handlungsrahmen dar, innerhalb dessen die operative Planung entworfen wird. Aufgabe der operativen Planung ist es, im Rahmen der strategischen Planung Ziele und Maßnahmen zu definieren, mit der die strategischen Ziele erreicht werden sollen. In einem ähnlichen Verhältnis stehen OF und OL zueinander.

Sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der Praxis wird darauf hingewiesen, dass die erfolgreiche Realisierung einer Strategie von der Gestaltung der Schnittstelle zwischen strategischer und operativer Planung abhängt. Besonders in der Praxis treten einige Differenzen auf: Die Ziele der strategischen und der operativen Planung werden auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau erstellt. Zum einen wird in der strategischen Planung ein langfristiger Zeithorizont berücksichtigt, während es in der operativen Planung darum geht, kurzfristig wirkende Maßnahmen zu definieren und umzusetzen. Zum anderen wird auf der strategischen Ebene mit qualitativen Daten gearbeitet, der operativen Planung hingegen werden quantitative Daten zugrunde gelegt. Strategische und operative Planungen werden von Menschen aus unterschiedlichen Funktionsbereichen erstellt, die unterschiedliche Erfahrungshintergründe mitbringen. Außerdem existieren unter den Organisationsmitgliedern häufig aus den operativen Funktionsbereichen Widerstands- und Beharrungstendenzen gegen die Strategie.

Ein wichtiges Merkmal von OF ist, dass es die Teilnahme von relevanten Personengruppen vorsieht. Durch seinen partizipativen Charakter können Organisationen dadurch ihre Defizite zwischen strategischer und operativer Planung überbrücken. Durch Workshops oder Zukunftskonferenzen können die Stakeholder eingebunden werden. Auf dieser Plattform können diese gemeinsam strategische Ziele erarbeiten, um sie auf der operativen Ebene zu realisieren. Hieran lehnen sich weitere Vorteile von OF an:

:: Mobilisierung und Nutzung des kollektiven Wissens in der Organisation
:: breiter Blick in die Umwelt und auf mögliche zukünftige Ereignisse durch Beteiligung der Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen
:: Förderung der Netzwerkbildung in der Organisation und mit Akteuren aus dem Umfeld der Organisation
:: Verbesserung des Verständnisses für die Entwicklungsrichtung ⁄ Strategie der Organisation auf allen Hierarchieebenen
:: Förderung der Motivation betroffener Akteure durch Beteiligung
:: aktive Gestaltung der Zukunft

Die Diskussion über die Wechselbeziehung zwischen der strategischen und operativen Ebene sollte demonstrieren, dass beide Ebenen ineinander greifen müssen. Das OF⁄L-Modell leistet dies, indem es die strategischen mit den operativen Funktionsbereichen vereint. An dieser Stelle ist es wichtig, ja geradezu eine Voraussetzung, dass die gewonnenen Erkenntnisse auf die operative Ebene überführt werden müssen. OF stellt die Plattform dar, auf der eine Organisation durch das Erarbeiten von Zukunftswissen die Grundlage für die strategische Langfristplanung legen kann. OL hingegen bildet den Rahmen, in dem das generierte Wissen entlang der Dimensionen (Technik, Struktur und Personal) in der Organisation verankert werden kann. Dies kann sich in der Neufassung der Dienstleistungen oder Produkte, Integration neuer Technologien, Weiterbildung des Personals, in der Restrukturierung der bestehenden Abläufe u.ä. ausdrücken.

Institutionalisierung des Modells in Organisationen
Das Modell eignet sich nicht nur für die Entwicklung von Strategien. Eine Organisation kann es auch nachhaltig institutionalisieren. Je nach der Größe der Organisation, der Dynamik der Umwelt, in die sie eingebettet ist, ihrem Zweck, Outputleistungen usw. kann die permanente Einrichtung des Modells in der Organisation Sinn machen und verschiedene Formen annehmen.

Bei großen Organisationen wie Großkonzernen können entsprechende Stabsstellen geschaffen werden, die sich ausschließlich mit der Beobachtung der Umwelt und der Abschätzung zukünftiger Ereignisse beschäftigen. Hieraus werden die Erkenntnisse verdichtet und an die entsprechenden Funktionsbereiche in der Organisation weitergeleitet. Hierbei müssen nicht sämtliche Organisationsmitglieder an den Foresight-Prozessen teilnehmen wohl aber ausgewählte Schlüsselfiguren, die für die Implementierung der Erkenntnisse wichtig sind, und externe Personen, die zu entsprechenden Themengebieten besondere Erfahrungen einbringen können. Großkonzerne wie Shell, BASF, Siemens, Telekom und die Münchener Rück Gruppe unterhalten Abteilungen, die dem OF bzw. der Zukunftsforschung zuzurechnen sind. Diese sind aber unterschiedlich ausgeprägt. Die Variationen und Gewichtungen sind zahlreich und vielfältig.5

Jedoch müssen die Organisationen hierbei Aufwand und Nutzen abwägen. Eine Alternative stellt die regelmäßige Durchführung von so genannten Zukunftskonferenzen dar. Hierbei ist es aber ratsam, externe Berater hinzuzuziehen, die über die nötigen Fachkenntnisse verfügen.

Eine weitere Möglichkeit, die – zugegebenermaßen – ein schwieriges Unterfangen darstellt, ist der Einsatz des Modells in Netzwerken bzw. Verbünden, wie sie insbesondere in der Wirtschaft anzutreffen sind. Hierdurch können die Netzwerkmitglieder Ressourcen und Kapazitäten zusammenlegen, um eine solche Einrichtung zu unterhalten. Es ist aber zu erwarten, dass einerseits die Koordination aufwendig ist, andererseits das Wissen selbst eine kritische Masse darstellt, so dass Konfliktpotenziale sich bilden können. Hierfür sind Vertrauen, eine sehr gute Arbeitsteilung und eine durchdachte Koordination unerlässlich.

Zusammenfassung und Fazit
Aus einer organisationssoziologischen Perspektive heraus wurde in diesem Beitrag die Frage beantwortet, wie Organisationen, die in einer dynamischen und komplexen Umwelt agieren müssen die Umwelt beobachten, Einflussfaktoren identifizieren sowie zu explizitem Wissen verdichten und schließlich in der Organisation verwerten können. Hierfür wurde das OF⁄L-Modell vorgestellt, das die Abläufe erklärt und diese in einen integrativen Ansatz zusammenfasst. Mit OF und OL wurden zwei Ansätze beschrieben, die jeweils für ihr Teilgebiet die Vorgänge erklären und zahlreiche Methoden umfassen, die dafür genutzt werden können.

Da es Anspruch war, ein Modell zu entwickeln, das für alle Organisationen – sei es Unternehmen, Parteien, soziale Bewegungen, Verbände, Gewerkschaften, die öffentliche Verwaltung – gelten soll, ging dies auf Kosten der Detailtiefe. Daher stellen vorstehende Ausführungen keine Anleitung für Organisationen zur Verfügung, was sie wie, wann und in welcher Form machen sollten, damit sie Umweltkomplexität beherrschen, künftige Herausforderungen erkennen und proaktiv begegnen können. Abgesehen davon kann die Institutionalisierung des Modells in der Organisation vielfältige Ausprägungen annehmen.

Wie immer man sich auch entscheidet, mit Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und Zweifel umzugehen, wichtig ist es jedenfalls, sich bewusst zu machen, dass die Zukunft nicht ein Zustand ist, der irgendwann einmal erreicht sein wird. Oder anders ausgedrückt: Die Zukunft erkennt man daran, dass man sie noch gestalten kann.  

 

1 Nohria, Nitin; Stewart, Thomas A.: Risiko, Ungewissheit und Zweifel, Harvard Businessmanager, Februar 2006
2 König, Rainer: Zukunftsforschung in Unternehmen: Innovationsberatung und sozio-ökonomische Umfeldanalysen bei der Deutschen Telekom, in: TA-Datenbank-Nachrichten, März 2000
3 Einen Überblick über die Methoden der Zukunftsforschung gibt Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Zukunftsforschung#Methoden_der_Futurologie)
Einen tiefen und umfangreichen Einblick in das Thema gibt die Veröffentlichung: Steinmüller, Karlheinz: Grundlagen und Methoden der Zukunftsforschung: Szenarien, Delphi, Technikvorausschau, WerkstattBericht 21 Sekretariat für Zukunftsforschung, 1997
4 Steinfeldt, Michael; Hoffmann, Esther: Organisationales Lernen und umweltbezogene Lernprozesse, Schriftenreihe des IÖW 170/03, 2003
5 Das »Online-Lexikon des Change Management« (http://www.umsetzungsberatung.de/lexikon/lexikon-change-management-a-d.php) und das Portal »Organisation und Änderung. Methoden, Modelle und Theorien« (http://www.12manage.com/i_co_de.html) geben einen umfangreichen Überblick über die Methoden der Organisationsentwicklung.

Weiterführende Literatur:

:: Argyris, Chris; Schön, Donald A.: Die Lernende Organisation: Grundlagen, Methode, Praxis, 1983
:: Bedeian, Arthur G.: Organizations: Theory and Analysis (Text and Cases), 1983
:: Guhls, Kerstin: Wie kann ein Foresight-Prozess in Deutschland organisiert werden? (Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung), 2000
:: Güldenberg, Stefan: Wissensmanagement und Wissenscontrolling in lernenden Organisationen: Ein systemtheoretischer Ansatz, 2001
:: Nonaka, Ikujiro; Takeuchi, Hirotaka: Die Organisation des Wissens: Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, 1997
:: Rationalisierung- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft (RKW) (Hrsg.): Erfolgreich durch Lernen: Innovationstechniken, Zukunftskonferenz, Projektmanagement, KVP, Gruppenarbeit, 1999
:: Schreyögg, Georg: Organisation: Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, 1999
:: Willke, Helmut: Systemisches Wissensmanagement, 2001

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0603a/0603a.htm