Warum Zukunftsgestaltung gerade heute?
Warum haben wir Angst vor der Zukunft? Warum sehen wir immer das Negative und nur selten das Positive, wenn es um Veränderungen geht? Wir müssen die Zukunft selbst aktiv gestalten, die Weichen selbst stellen, damit das Land sich aus dem Stimmungstief in ein Aufbruchshoch katapultieren kann. Dabei hinderlich ist Jammern. Von großer Hilfe hingegen sind Mut, Veränderungsbereitschaft und die Begeisterung, die Gestaltung der Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen.

Ute Hélène von Reibnitz

        


 
n Zeiten, wo die Diskussion um Hartz IV das Sommerloch der deutschen Medien füllt und immer mehr Menschen Angst vor der Zukunft bzw. der Verarmung haben, klingt es wie Ironie, wenn ich behaupte, noch nie war das Thema Zukunftsgestaltung so wert- und sinnvoll wie heute. Die provozierende These lautet: Wenn wir jetzt nicht die Weichen für unsere Zukunft stellen, dann haben nicht wir die Zukunft, sondern die Zukunft hat uns im Griff – und dies sicher ganz anders, als wir es uns wünschen.

Die zynische Bemerkung »wenn es Deutschland schlecht geht, dann ist die Stimmung noch schlechter« trifft ziemlich genau die aktuelle Situation. Was immer man von den sicher dringend notwendigen Reformvorschlägen der Bundesregierung im Einzelnen halten mag, der Tenor der Medien und der öffentlichen Meinung hat im Wesentlichen das Negative im Visier. Den Menschen wird durchgängig Angst eingeflößt, aber keine Lösung oder gar Alternativen werden aufgezeigt.

So ist es offensichtlich, dass für viele das Thema Zukunft mit Angst belegt ist: Angst vor der Verarmung, Angst, das mühsam Ersparte zu verlieren, Angst davor, wie und wovon man im Alter leben wird etc.

Besser oder schlimmer - eine Frage der Perspektive
Dabei kann die gleiche Situation durchaus ganz anders aus dem Ausland analysiert werden; so titelte das Time-Magazine im Juli 2004 What’s right with Germany und brachte Beispiele für Aufbruchstimmung, Wirtschaftsbelebung und Unternehmergeist, während der Spiegel drei Wochen später Angst vor der Armut titelte und die Angst weiter schürte. Zwar gab es Stimmen, dass so etwas dringend notwendig sei und man zeigte auf, dass andere europäische Länder ihre Reformen schon früher und sogar härter durchgezogen haben, aber der Grundtenor bleibt und heißt »Die Zukunft wird noch schlimmer, als wir es uns vorstellen können.«

Was tun, Deutschland, Land der Dichter und Denker, der Erfinder und Unternehmer, der Pioniere des Sozialstaates, des »modèle rhénain«, wie die Franzosen es nennen.

Etwas Retrospektive beweist: Deutschland war nach zwei Weltkriegen schon in viel schlimmeren Situationen; wenn man damals nur über den verlorenen Krieg gejammert hätte, dann wäre das Wort Wirtschaftswunder nie im Duden aufgenommen worden. Heute ist die Lage weit von der Nachkriegssituation entfernt und man ist auf einem in der Geschichte beispiellosen Wohlstands- und sozialen Absicherungsniveau angekommen, das aber in Zukunft selbst bei einem dynamischen Wirtschaftswachstum allein aufgrund der demografischen Fakten nicht mehr finanzierbar ist. Das leuchtet auch immer mehr Menschen ein; im Prinzip sind viele für Reformen, aber bitte nicht bei mir und meinen Ansprüchen anfangen, sondern bei den anderen.

Ja, aber...
»Fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt« forderte Kennedy einst die Amerikaner auf, die ihm dafür zujubelten. Zitiert man diesen Kennedyausspruch heute in Deutschland, dann sind die Reaktionen oft von einem »Ja, aber« und »Deutschland ist nicht Amerika« begleitet.

Eines ist klar: so wie in der Vergangenheit und möglichst noch mit den Erfolgsrezepten von gestern können wir weder die Gegenwart und noch weniger die Zukunft meistern. Was jetzt gefragt ist, sind neue Ideen, nachhaltige Konzepte und vor allem eine verständliche und motivierende Kommunikation der Reformen. Ist das alles, um ein ganzes Land, ein ganzes Volk aus dem Stimmungstief in ein Aufbruchshoch zu katapultieren?

Nein, es fehlen noch Mut, Veränderungsbereitschaft und individuelle sowie kollektive Begeisterung, die eigene Zukunft zu gestalten. Dies sind die Fähigkeiten, die wir entwickeln müssen, gepaart mit Methoden, die uns helfen, die Zukunft auszuleuchten und unsere eigene zu erschaffen.

Eine Geschichte zum Nachdenken
Wann immer jemand auf einem satten und hohen Wohlstandsniveau jammert, wie furchtbar die Zukunft sein wird und dass die Zeiten immer schlechter werden, dem möchte ich zum Nachdenken die Geschichte von Sandra Liliana Sanchez erzählen.

Sandra ist heute 18 Jahre alt, Kolumbianerin und lebt in Ciudad Bolivar, einer der schrecklichsten Slumvorstädte von Bogota, dort wo Armut und Hoffnungslosigkeit am schlimmsten sind. Sie wurde im Alter von 9 Jahren Schulsprecherin, weil sie hervorragend kommunizieren kann. Sie hat das Elend ihrer Wohnsiedlung und ihrer Schule als Aufgabe verstanden und – statt wie andere in ihrem Alter in der Resignation oder Kriminalität zu enden, hat sie gehandelt. Zunächst kleine, dann später größere Schritte, die zu besserer Ausstattung ihrer Schule mit Equipment und Lehrpersonal geführt haben.

Damit ihre Schulkameraden auch nach dem Unterricht versorgt und gespeist werden konnten, rief sie im Alter von 9 Jahren ihre erste Stiftung ins Leben: sie verhandelte mit Behörden, bekam Räume, Personal und Sachmittel und baute mit Hilfe einer kolumbianischen NGO ein Zentrum für Junge und Alte, das den Menschen in ihrer Trostlosigkeit bis heute Nahrung, Sinn und Hoffnung gibt. Alte Menschen betreuen Kinder, basteln Spielzeug und geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die Jungen weiter. Ledige Mütter (in Kolumbien bei 12 – 17-jährigen der ganz Armen eher die Regel als die Ausnahme) bekommen hier ihre Kinder betreut und können einen Schulabschluss machen. Ausbildungsprogramme und Lehrstellen für junge Männer, die in Ciudad Bolivar entweder drogensüchtig oder kriminell oder beides werden, geben den Hoffnungslosen wieder Hoffnung.

Heute geht es ungefähr 400 Menschen, die rund um Sandra leben und arbeiten, deutlich besser als zuvor. Sie haben eine winzige Chance erhalten und sie genutzt; damit haben sie sich selbst ein Minimum an Würde zurückgegeben und ein Stück Hoffnung auf eine bessere Zukunft geschaffen.

Initiative statt Resignation
Und nun frage ich deutsche Manager und Wohlstandsbürger, Hartz-geschreckt und gut gesichert, was kann man von Sandra lernen? Dieses Indiomädchen hat nicht das gemacht, was alle vor ihr auch taten, nämlich resigniert. Sie hat mit sehr viel Mut gekämpft und sie hatte oft mehr Gegner als Unterstützer, aber jeder Rückschlag war für sie der Auslöser zu lernen, Dinge besser zu machen, andere Wege zu gehen, neue Verbündete zu suchen.

Und wenn man so viel Initiative zeigt, dann hilft einem auch der Zufall. Vor ein paar Jahren lernte ein französischer Biologe Sandra kennen und war fasziniert von ihr und dem, was sie in ihrer Gemeinde tat. Er stellte einen Kontakt mit einer großen französischen Bankengruppe, dem Crédit Mutuel her und man lud Sandra nach Paris ein.

Vor einem Delegiertenkongress von ca. 1.000 Personen hat die damals fünfzehnjährige Sandra in ganz klaren, einfachen Worten ihr Konzept erklärt und nebenbei den gestandenen Managern gesagt, was für sie Leadership ist – nämlich Führen durch Vorbild oder wie sie selbst sagte »ich kann nur das von anderen verlangen, was ich selbst bereit bin zu tun oder besser noch, ich tue mehr, als ich von anderen verlange«. Jeder im Saal war tief berührt durch die klaren und weisen Worte eines Indiomädchens, das dem Schicksal getrotzt und der Welt bewiesen hat, dass man mit Mut und Eigeninitiative selbst aus einer aussichtslosen Situation etwas Positives schaffen kann.

Diese Reise nach Frankreich war nicht ihre letzte; bei jedem Besuch wächst ihre Unterstützergruppe. Inzwischen hat sie einen Humanitätspreis des »Figaro« gewonnen und mit diesem Geld und anderen Spenden ihr Zentrum Stück für Stück weiter ausgebaut. Seit einigen Monaten ist ihre Geschichte als Buch unter dem Titel Les oubliés de Bogota (Die Vergessenen von Bogota) in Frankreich auf dem Markt... und ihre Geschichte ist sicher noch nicht zu Ende. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft noch einiges Bemerkenswertes von ihr hören werden.

Dies zum Thema Mut: Niemandem in Deutschland geht es so schlecht wie einst Sandra, aber das Jammern ist um ein Vielfaches lauter.

Zukunft selbst gestalten
Was braucht man noch, um seine Zukunft anzupacken? Veränderungsbereitschaft – ein leider schon inflationär benutztes Wort, das gut klingt, aber von den Betroffenen mit Skepsis und Misstrauen aufgenommen wird. Warum ist dieser Begriff so negativ besetzt? Es gibt sicher viele Gründe dafür, aber einer taucht permanent auf: Wann immer von Veränderungen und Reformen die Rede ist, bedeutet dies: Reduktion von Leistungen, Herunterschrauben von Ansprüchen, kurz gesagt Verzicht auf soziale und andere Errungenschaften. Veränderung hat daher für viele den Beigeschmack von weniger, von unangenehm und von Verschlechterung der derzeitigen Situation.

Veränderung hat aber noch eine ganz andere Facette, nämlich eine positive; auch technischer Fortschritt bedeutet Veränderung für jeden Einzelnen. Wir haben alle mal lernen müssen, wie man mit Computer, Internet und Handy umgeht und heute kann sich kaum jemand mehr vorstellen, wie man ohne das alles leben kann. Diese Veränderungen sind aber, mit Ausnahme einiger Technikgegner, durchaus positiv wahrgenommen worden, obwohl sie Lernen und Verhaltensänderungen nach sich zogen.

Sie waren positiv besetzt durch Begriffe wie technischer Fortschritt, Erleichterung der Arbeit und des Lebens, Erreichbarkeit und Modernität. Diese technischen Veränderungen in unserem Leben gingen nicht so glatt und reibungslos vonstatten, wie man das in der positiv besetzten Rückschau heute wahrnimmt. Abgesehen von Kindern und Jugendlichen hatten viele Ältere am Anfang große Mühe, sich mit dem Computer anzufreunden, ihn als selbstverständliches Werkzeug kennen und nutzen zu lernen. Da war in der Übergangsphase viel Frustration und Verärgerung, wenn die Technik anders reagierte als man wollte. Aber irgendwann, sicher auch durch den beruflichen und sozialen Druck, wurde Techniknutzung zur Selbstverständlichkeit.

Wenn man jetzt diesen mit der Technik erlebten Veränderungsprozess analysiert, dann kristallisieren sich 3 Etappen heraus:

Phase 1: Konfrontation mit dem Neuen und Verunsicherung: Wie komme ich damit zurecht? Wie lange brauche ich, um es zu beherrschen? Wird es wirklich meine Arbeit erleichtern?

Phase 2: Erstverschlimmerung: bei der zunächst noch ungeschickten und fehlerhaften Nutzung treten Fehler und Pannen gehäuft auf; vieles dauert länger als vorher; Frustration und Verärgerung machen sich breit; das ganze wird in Frage gestellt.

Phase 3: Wenn man die Phase 2 ohne aufzugeben durchgestanden hat, kommt jetzt die Belohnung: Erfolgserlebnisse, es geht schneller und besser, man entdeckt neue Möglichkeiten, die man vorher nicht hatte (z.B. on-line einkaufen rund um die Uhr) und jetzt kommt auch der Spaß an der Technik.

Übertragen wir diese Phasen auf soziale und ökonomische Veränderungen, dann sollte uns das ermutigen, die etwas schwierigeren Phasen 1 und 2 durchzustehen, um in der Phase 3 von den vorherigen Umstellungen und Lernprozessen zu profitieren. Wenn wir aber nur das Negative sehen, verweigern und blockieren, dann werden wir in der Phase 1 oder 2 stecken bleiben und nie den Lohn der Mühe ernten und schon gar nicht die neuen Möglichkeiten entdecken, die die Veränderungen uns bringen können.

Wenn wir heute im Zeichen explodierender Ölpreise zurückschauen auf die erste und zweite Ölkrise, dann haben sie im Nachhinein einen sehr positiven Effekt gehabt: ohne Ölkrise wären wir uns nicht der Endlichkeit fossiler Energien bewusst und wir hätten weder Produkte noch Prozesse zum geringeren Energieverbrauch entwickelt. Und es brauchte einen 11. September, damit sich die westliche Welt ihrer Verwundbarkeit gegenüber dem Terrorismus klar wurde.

Alle diese Beispiele zeigen, dass wir offenbar Krisen und Schocks als Auslöser benötigen, um zu lernen und uns weiterzuentwickeln, als Individuen, als Unternehmen, als staatliche Organisationen und als Volkswirtschaften.

Zusammengefasst kann man sagen, dass Mut und Veränderungsbereitschaft die ersten Voraussetzungen sind, um seine eigene Zukunft als Unternehmen oder als Mensch selbstbestimmt zu gestalten.  

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0409b/0409b.htm